durchblicke

katharina sochor-schüpbach in der galerie ursula huber

kaum zehn jahre sind es her, da besass das staatseigene unternehmen, das wir lange zeit einfach ‹post› nannten, noch nicht über jenes unverständliche logo mit der sich in blau und rot wie eine schnecke aus den tiefen des meeres drehenden figur und waren die telefonkabinen noch nicht gläsern und mit sphärenmusik animiert, sondern stickig enge zellen. wer damals in einer solchen zelle eine telefonnummer suchte, dem präsentierte sich neben dem münzautomaten die ganze schweiz in form von aufklappbaren büchern, die nach regionen geordnet waren. manchmal fehlten zwar in einem telefonbuch einzelne seiten, weil sich jemand eine nachgeschlagene telefonnummer nicht merken oder in ermangelung eines schreibstifts nicht notieren konnte, um dann die entsprechende seite einfach abzureissen. heute ist die nach regionen geordnete telefonschweiz aus den telefonzellen verschwunden, eine digitale plattform erlaubt es, telefoneinträge zu suchen; die schweiz nach kantonen zusammengestellt ist aus den telefonkabinen verschwunden.

und doch sind diese telefonbücher nicht verloren gegangen. es gibt sie noch, wundersam verwandelt und zu neuen höhen strebend. mit ihrem kleinen renault twingo hat sich katharina sochor-schüpbach in ein lagerhaus der swisscom begeben, um dort eine menge telefonbücher, die konkursite firmen nicht haben abholen lassen, in ihren wagen einzuladen und nach zürich in ihr atelier zu transportieren. wer hätte gedacht, dass aus den telefonbüchern und aus den millionen von gedruckten telefoneinträgen der schweiz jemals elegante, nach oben strebende bauten mit den namen klingenden ‚babylon‘ oder ‚campanile‘ entstehen könnten? ist es das babylonische sprachengewirr in unseren telefonleitungen, dem wir hier still, transformiert und dreidimensional begegnen? namen aus allen schweizer regionen, schweizer und ausländer, vertraute und unaussprechliche, sind in den türmen der katharina sochor-schüpbach vereint, sie streben in die höhe, werden nach oben hin immer schmaler. wer hätte je gedacht, dass sich genf und arbon, locarno und riehen in zusammengepresster form je so nah zusammenrücken könnten wie in jenen runden und nach oben strebenden konstrukten, die katharina sochor aus ausgedienten und nie benutzten telefonbüchern erstellt? in denselben tagen, da ein roman mit dem titel «der turm» als der beste deutschsprachige roman des jahres 2008 gekürt wurde, stellt katharina sochor ihre eigene interpretation des themas vor. wie stabil telefonbuchpapier sein kann, das maschinell zu streifen geschnitten wurde! welch spannende durchblicke sich da ergeben, wenn man sich näher an den turm begibt, in dem hinter schmalen glasplatten blumenbilder glitzern. wie spannend zu sehen, dass papierstreifen und glasplatten, die ebenfalls eigens für katharina sochors bedürfnisse geschnitten wurden, baumasse für türme sein können. präzises handwerk und phantasie gehören gleichermassen zu diesen türmen. wie textilen jener turm von nahem wirkt, der drei höhenmeter misst, dessen braune tönung brandspuren aufweist, die die künstlerin mit einem bunsenbrenner gezielt angebracht hat. von weitem betrachtet, entsteht der eindruck, dieser turm sei aus eisen gebaut wie jener turm am berner waisenhausplatz. wie sehr doch feuer täuschen kann! schicht für schicht türmen sich babylon oder ein toskanischer campanile gen oben. und wie spannend zu ahnen, dass die türme, die katharina sochor-schüpbach konstruiert, auch zerlegt und ganz anders präsentiert werden könnten, etage für etage anders geschichtet, auf den boden hingelegt und neu zusammen gestellt. wer nicht weiss, dass hier amtliche telefonverzeichnisse als baumaterial gedient haben, käme nie auf das bauprinzip dieser türme. das stark gepresste papier und die glasplatten ergeben ein unerwartetes formen- und farbenspiel. anders als der biblische turm von babylon lassen sich die neuen, bis zu 3 metern hohen türme aus katharina sochors atelier in zürich, transportieren: segment für segment können sie in kartonschachteln verpackt und reisefertig gemacht werden, um nach ihrer ankunft am ausstellungsort wieder zusammengesetzt zu werden. von der ehemaligen orthopädischen werkstatt in zürich, in der katharina sochor ihr atelier eingerichtet hat, sind die türme in das frühere fotoatelier löhndorf nach basel gekommen, transformation und neue nutzungen im werk der künstlerin und an den orten, an denen ihre kunstobjekte zu sehen sind.

katharina sochor-schüpbach wohnt in zürich in geh- und sehdistanz zum neuen campus der eidgenössischen technischen hochschule (eth) auf dem hönggerberg. wenn man sich in ihrem atelier umschaut, hat man den eindruck, sich in einem experimentierlabor unweit des hochschulgeländes zu befinden. denn katarina sochor experimentiert mit glas und papier, mit farben und mit feuer. ihr grundmaterial reicht vom seidenpapier bis zum karton, dann viel bedrucktes: zeitungen, broschüren, illustrierte, ansichtskarten, fotos, telefonbücher. das reizt zur veränderung – schichten und formen hin zum objekt und bild gewandelt. objektträger wie sie medizinische labors verwenden, lagern in ihrem atelier in schachteln und warten auf ihren einsatz, nicht etwa unter dem mikroskop, sondern zwischen papier- und kartonlagen und in metallrahmen festgehalten zu kunstobjekten transformiert. schmale streifen aus dünnem papier schliessen kleine glasblöcke ein. auf dem hintergrund farbpapiere und fotos. prototypen ihrer neuen objekte sind im atelier zu sehen sowie manchmal auch im blumenreichen garten jenes hauses, in dem sie und ihr mann, der fotograf kurt sochor, leben, kleinere konstrukte, die nach ihrer erprobung in grösserer form nochmals konstruiert werden. sind die objekte erstellt, kann es vorkommen, dass sie in der geräumigen wohnküche, die so gross ist, dass sie auch kinderspielzimmer und esszimmer dient, aufgestellt werden. und so ist die küche von katharina sochor auch ein faszinierender galeriebereich, in dem auch frühere werke der künstlerin, etwa tragbarer, experimenteller schmuck aus papier in schubladen lagert. dass sich aus einem amtlichen telefonbuch auch halsschmuck machen kreieren lässt, ist übrigens heute in diesen galerieräumen zu sehen: eine schmuckträgerin trägt das genfer telefonbuch am hals. oder genauer gesagt: aus seiten eines telefonbuchs hat katharina sochor rechteckige papierschnipsel zusammen geschnitten und dich aneinandergefügt, eine dichte kette ist daraus entstanden, die aussieht, als sei sie aus stoff hergestellt worden.

katharina sochor gelingen in ihren papierobjekten erstaunliche transformations- und verfremdungsprozesse. die kulturzeitschrift du, einst ein stolzes magazin, das heute in mehreren phasen den weg ins abseits begeht, erlebt in katharina sochors atelier eine erstaunliche blüte, wird in zusammengepresster form auf eisenplatte montiert und kunstgerecht gebrannt zu einem kunstobjekt, das eigentlich du-lesern als werbe- oder treueprämie gegeben werden müsste. aus dokumentierter, fotografierter und beschriebener kultur, die in regalen oder in kellern in vergessenheit gerät, aus abgelegten zeitschriften, schafft katharina sochor neue sehobjekte. wie holzschnitte sehen diese werke aus, papier, das mit dem bunsenbrenner leicht angebrannt wurde, bei dem die brandspuren zum teil mit einem cutter und mit einer bürste weggekratzt und mit einer öligen masse bearbeitet wurde. eines dieser objekte aus gepressten du-blättern zusammengesetzt und mit dem feuer bearbeitet, gleicht einem bild eines ährenfeldes im frühmorgendlichen blau, ein feld, in das wir von der seite, vom strassenrand her hineinblicken.

katharina sochor-schüpbach ist mehr als eine turmerbauerin! sie hat mit der digitalkamera in gärten fotografiert, hat ihr objektiv auf hohe berge im kanton bern gerichtet. mit diesen fotografien hat sie hinterglasbilder komponiert, wobei sie das glas nicht wie üblich als scheibe darüber legt, sondern als schichtung zahlreicher kleiner scheiben. die am computerbildschirm bearbeiteten berner bergpanoramen sind dabei neu zusammengesetzt worden und so weit geworden, weiter als die real erkennbare landschaft. mit den glasplatten, die diese berg- oder auch blumenwelt fraktioniert und doch als ganzes zeigen, wiederholt die künstlerin, wie sie sagt, ein prägendes kindheitserlebnis: wenn sie damals den bretterzäunen im dorf entlangging, sah das kleine kind die welt auf der anderen seite es zauns durch die zaunstäbe ebenfalls in streifen gegliedert und doch unzerteilt. manchmal verwendet katharina sochor für ihre hinterglasbilder mikroskopische bilder aus wissenschaftszeitschriften, die sie ebenfalls am computer bearbeitet. eine schiene mit bis zu 1200 glasplättchen zeigt dann in gebrochener weise mehrschichtige bilder, die wir so nie sehen würden. und dann gilt es noch jene hinterglas collagen zu erwähnen, denen aus asien stammendes papier zu grund liegt, goldiges papier, auf dem zeichen, linien, striche gezeichnet wurden, mit farbigen papierschnipseln beklebt, hinter dem glas wirken diese bilderschienen dreidimensional, ergeben sich überraschende tiefen. bühnenbildern gleichen diese arbeiten. katharina sochor-schüpbach ist nicht nur turmerbauerin, sie hat bühnen geschaffen, die wir von nahem oder von distanz aus anschauen können, die sich ja nach entfernung dem betrachter ganz unterschiedlich anbieten präsentieren. wer sich vor katharina sochors kleinen panoramen hinstellt, der begibt sich in mehrschichtige sinnliche farbwelten.

lassen sie mich noch, meine damen und herren, die sie an diesem sonntag den weg zu dieser ausstellungseröffnung gefunden haben, noch zwei sätze sagen, die in eine andere richtung gehen. im zentrum unseres interesses steht das werk einer künstlerin. aber ohne einen ausstellungsort droht das werk eines jeden künstlers und einer jeder künsterin in magazine und schubladen zu landen. ursula huber hat in einem ehemaligen fotostudio einen wunderbaren kunstort eingerichtet. und mit einer beharrlichkeit bleibt die galeristin ihren künstlerinnen und künstlern treu. katharina sochor stellt zum zweiten mal bei ursula huber aus. und wenn sie sich die liste der kunstschaffenden anschauen, die ursula huber zeigt, vertritt, betreut, dann sehen sie, dass es sich um wichtige vertreter der bildenden kunst in der schweiz handelt. es braucht diese galeristen heute mehr denn je, galeristen, die sich den künstlern von hier widmen, die nicht an den pr-gewandtesten kunstschaffenden orientieren. gerade in wirtschaftlich schwierigen zeiten braucht es sie. den beiden also, katharina sochor-schüpbach und ursula huber, sei eine gute und eine ertragreiche ausstellung gewünscht!

michael guggenheimer, zürich
26. 10. 2008