aus der sächsischen zeitung (dresden) vom 15. 5. 2013

«geschichten, porträts, empfehlungen, spezielle einblicke. michael guggenheimers buch ‹tel aviv. hafuch gadol und warten im mersand›
bietet nicht nur inhaltlich ein höchstmass an abwechslung. das werk fällt auch in seiner gestaltung aus dem rahmen,
denn es lädt zum drehen und wenden, zum gucken, vor- und zurückblättern genau wie zum festlesen ein».

tel aviv. hafuch gadol und warten im mersand

einführende worte von ursula zeller, wissenschaftliche mitarbeiterin der james joyce stiftung, zürich

man kann es drehen und wenden wie man will, es ist ein ganz wunderbares bijou von einem buch, und das mein ich jetzt auch wörtlich, drehen und wenden wie man will, mal hoch, mal quer, man will auch immer wieder zurückblättern, vorblättern ist an sich auch erlaubt, da es eben nicht in einer linie, mit nur einem roten faden erzählt, sondern in verschiedene richtungen ausstrahlt, und ein mosaik aus räumen und örtlichkeiten schafft. oft möchte man an mehreren stellen im buch gleich-zeitig sein, will zurück zu einer geschichte, die sich am gleichen ort abspielte, im selben café oder am gleichen boulevard rothschild, oder man will quer durchs buch und das bild zum passenden text, den man eben gelesen hat, nochmals ansehen. die stehen nämlich beileibe nicht nebeneinander, text und foto, sondern müssen von uns lesern zusammengeführt werden. wie gesagt, ist dies ein buch, das in einem ganz besondern masse «räumlich» ist.

tel aviv enthält rund 50 geschichten, dazu 20 hinweise auf besondere orte, die nicht eben zum standardrepertoire eines x-beliebigen reiseführers gehören. die empfehlungen reichen von einem friedhof über ein restaurant, das sich in einem ehemaligen pelzgeschäft eingenistet hat, bis zur spezialbuchhandlung oder einem kochtipp. dazu kommen fotografien von michael guggenheimer, die oft mit einem der texte korrespondieren oder aber für sich selber stehen. needless to say zeichnen sich auch die bilder durch einen blick aus, den sie nicht unbedingt in ihrem merian-reiseführer finden würden.

die geschichten erzählen auf der einen ebene erinnerungen an die kindheit in tel aviv mit den sehr deutschen eltern, jeckes nennt man die deutschen juden in israel, und auf der 2. ebene, wird der stadt seiner kindheit, die metro-pole von heute gegenübergestellt, wo michael guggenheimer jedes jahr mehrere wochen wohnt.

hier rücken nun v.a. andere leute ins blickfeld, tel avivi, in oft spontanen begegnungen und zwischenfällen. so entstehen kleine prägnante porträts, einblicke und ansichten, witzige, berührende, und auch mal skurrile geschichten (zb. in warten, so der titel, um eine einsame figur mitten im wimmelnden tel aviver flughafen, eine figur, die fast schon ein beckett’sches flair hat).

nichts entgeht seinem blick, seiner offenen neugier, jedem noch so alltäglichen gegenstand entlockt michael guggenheimer eine geschichte, keine erscheinung zu gering, um ihr auf den grund zu gehen. das unscheinbare, erst auf den 2. blick bemerkenswerte, ist bei ihm fast schon programm und jedenfalls ein kompass seines reisens.

am liebsten sind ihm denn auch sogenannt unscheinbare menschen, nebenfiguren des stadtlebens, die er für einen moment ins zentrum rückt.

emblematisch scheint mir dafür etwa die geschichte sitzbänke.

die geschichten sind fast allesamt in der topografie von tel aviv verortet, die strassennamen werden genau genannt. das tel aviver strassennetz legt sich also wie ein raster über oder unter die geschichten: arlosoroff street, rothschild boulevard, dann: dizengoff, ben jehuda, ben gurion, frishman, achad ha’am, und rabinplatz… also grössen der jüdischen geschichte, der geschichte israels und tel avivs, nach denen die strassen benannt sind. und dazwischen sitzen nun die kleinen leute, stille neben­figuren, – andere auch weniger still!– denen michael guggenheimer eine stimme und einen namen gibt, berührend eben zb. in sitzbänke, wo die alten menschen, einst flüchtlinge aus europa, buchstäblich im schatten sitzen und stumm geworden sind.

und da, wo sich michael guggenheimer doch mal dem 1. ministerpräsidenten von israel zuwendet, so interessiert er sich für den untern bildrand der hochglanzhistorie, für dessen bibliothek, die privaten lektüren – und für die 2 geschirrtücher, die im ben gurions haus heute noch hängen (mittlerweile ein museum). der 1. präsident des jüdischen staats und doch eher säkulare zionist, wie hielt er’s wohl mit der kashrut, fragt sich der erzähler. 2 tücher, wohl eins milchig, und eins für fleischig? so wirft ein detail kurz und wie nebenher ein schlaglicht auf ein grösseres thema, ohne dass es aus-drücklich und langatmig referiert würde. auch das ist typisch für michael guggenheimers vorgehen.

eine überragende protagonistin dieses buchs hab ich noch ausgelassen: sie werden sie in einigen geschichten eh gleich hören… sprache und literatur, sie sind fast omnipräsent. michael guggenheimers tel aviv ist nicht erst zwischen den deckeln seines neuen buchs ein universum aus sprache. sprache in allen varianten, slang, werbung, zeitung, literatur, und immer wieder als übersetzung begegnet ihm überall auf seinen gängen durch die stadt.

stichwort zeichenlesen, übersetzen: da sind wir beim titel deines buchs:

tel aviv. hafuch gadol und warten im mersand. das oszilliert auch zwischen fremd und vertraut: man versteht gerade mal die hälfte der wörter, meint vielleicht, man verstehe mehr und habe gleich einen druckfehler entdeckt (da fehlt ja glatt ein e, und das im titel!), das ist tatsächlich passiert, wie du mir erzählt hast.

wir sind nun sehr gespannt darauf, dass du mit uns nach tel aviv übersetzt und uns erzählst, was es mit dem vollen titel und all den andern wörtern auf sich hat.

st.galler tagblatt, stadtkultur, 22. 5. 2013

gespäch mit h.r. fricker konzeptkünstler
über schultern schauen

h.r. fricker, sie suchen an der heutigen lesung das gespräch mit dem autor. was verbindet sie mit michael guggenheimer?

ich arbeitete 1980 beim st. galler tagblatt als hilfsarbeiter, als papierschneider für das layout. in diesem klima habe ich michael guggenheimer kennengelernt. er war übrigens der erste, der über meine eigenen arbeiten geschrieben hat. damals kreierte ich plakatdrucke im weltformat.

angekündigt ist ein aussergewöhnliches buch, dessen bilder und texte man mal hoch, mal quer lesen könne. fasziniert sie als bildender künstler das formale des buches?

ja, das von kaspar mühlemann gestaltete buch ist einzigartig. ich würde es vielleicht so sagen: es ist vor allem ein buch zum in-die hand-nehmen. kürzlich habe ich in facebook einen beitrag aufgeschaltet, der zeigen soll, wie man mit dem buch wandern kann.

kann ich mich als leser auch ohne smartphone und ipad in die drehbewegungen des gestalteten buches hineinfinden?

ja, klar. ich habe eben gesagt, dass das vorliegende gedruckte buch auch ein «hand-buch» ist. etwas sehr sinnliches. texte und fotografien, die man gerne mit sich trägt und immer wieder neues, ueberraschendes entdeckt.

auf ihrer webseite «erobert die wohnzimmer dieser welt.net» machen sie das online.

michael guggenheimer ist ein autor, der alle möglichen kanäle des internets nutzt. er führt einen blog, ist auf facebook und in anderen plattformen wie you-tube präsent. insofern spiegelt das buch ein stück weit auch diese seite.

gibt es unter den fünfzig geschichten eine, die sie besonders fasziniert?

es gibt mehrere. zentraler scheint mir aber die frage, wie ein autor mit dem authentischen umgeht. offenbar gibt es auch in der jüdischen tradition den geschichtenerzähler. man fragt sich dann, ist das erzählte wahr oder ist es erfunden. zu trennen ist das nicht immer. das wirft interessante fragen auf, zum beispiel die: «wie macht man eine geschichte?»

sie haben uns st.gallern neue orte geschaffen. orte der wut, der list, der scham und mehr. sie sind ein netzwerker. was verbindet sie mit der literatur?

die grenzen zwischen den einzelnen künsten sind längst fliessend. man muss anderen über die schulter schauen. so entstehen netzwerke zwischen bildender kunst und literatur. dieser austausch ist äusserst fruchtbar und inspirierend.

heute moderieren sie ein gespräch.

ich mache das zum ersten mal. michael hat mir gesagt, dass es nicht mehr als fair sei, wenn er nicht weiss, was ich fragen werde. auch er weiss nicht, was er antworten wird. ich sagte ihm: «ich bin zum scheitern bereit!»

das gespräch führte daniel fuchs
michael guggenheimer liest aus seinem neuen buch. der ostschweizer künstler h.r. fricker moderiert das gespräch.

keller der rose, heute mi, 20 uhr

der standard, wien, 27. mai 2013

informell aus israel
autor michael guggenheimer bringt in «tel aviv» das private und das politische zur sprache.

ignorante taxler gibt’s auch anderswo. die kombination von bauhaus, humus und «security» aber kennzeichnet tel aviv. 1909 gegründet, hat die metropole heute eine bevölkerung im durchschnittsalter von 30 bis 40. bedeutend jünger noch war michael guggenheimer beim verlassen seiner geburtsstadt. als erwachsener ist der autor, der in zürich lebt, immer wieder in der weißen stadt, über die er nun ein buch veröffentlicht hat.

der 1946 geborene guggenheimer ist nicht als heimkehrer in tel aviv und nicht als tourist. bei seinen schweifenden erkundungen der stadt setzt er viel understatement ein und kommt gerade so an besondere auskünfte und eindrücke. tel aviv (edition clandestin, biel) ist durchaus als reisebegleiter nutzbar, vor allem aber ist das bändchen mit den zahlreichen fotos eine faszinierende mischung: guggenheimer bringt das private und das politische zur sprache, geschichten und geschichte, alles mit empathie und ironie. er erzählt vom schweiz-kult eines wahl-israelis und der sabbat-treue eines hausmeisters, von philippinischen pflegekräften und deutschlernenden skype-userinnen, von granatapfelsaft und musealisierten geschirrtüchern.

wer gelegentlich mit seinem haushaltshilfenlosen haushalt hadert und dann liest, welche angewohnheiten raumpflegepersonal an den tag legen kann, freut sich an seiner ungeputzten privatsphäre.

tachles, zürich, 5. juli 2013

aus tachles magazin, zürich.

«wenn der zürcher autor michael guggenheimer im mersand im zentrum tel avivs glücklich seinen ‘hafuch gadol’ trinkt, dann sitzt er im letzten jecke-café der stadt seiner kindheit. im mersand schreibt er die skurrilen, humorvollen und manchmal meschuggenen alltagsgeschichten mit wiedererkennungswert für alle, die die bauhausstadt schon einmal besucht haben. tel aviv ist anders – weil es so normal ist. weil die stadt an andere westliche metropolen erinnert, aber zugleich sehr israelisch ist und eine rettungsinsel in einem manchmal von irrsinn gepagten land».

jüdische allgemeine, berlin, 29. 8. 2013
ludger heid

meschugge im mersand
michael guggenheimer widmet der stadt seiner kindheit, tel aviv, ein literarisches porträt

im ranking der weltweit beliebtesten städte liegt tel aviv ganz vorne. warum israels metropole so populär ist, kann man bei michael guggenheimer nachlesen. wenn der in zürich lebende, in tel aviv geborene und aufgewachsene schriftsteller, journalist und fotograf im café mersand in der ben-yehuda-/ecke frishman-straße seinen hafuch gadol trinkt, ist er glücklich, denn er sitzt in einem der letzten jeckes-cafés der weißen stadt, in die er immer noch ganz vernarrt ist.

im mersand schreibt er (wenn er nicht gerade haaretz liest) auch seine skurrilen geschichten. in seiner titelstory erweist sich guggenheimer als genauer beobachter der mersand-gäste mit all ihren schrulligen allüren, die zumeist, wie er selbst, den israelischen milchkaffee trinken.

das mersand ist der treffpunkt vieler tel aviver quer durch alle schichten und generationen. ein tisch ist stets reserviert. seit 25 jahren, immer vormittags – denn zwischen 14 und 16 uhr ist «schlafstunde» –, außer am schabbat, trifft sich im mersand ein kreis älterer damen, die es inzwischen zu einer gewissen berühmtheit gebracht haben, nachdem günther jauch mit ihnen zusammengetroffen ist.

der tv-moderator war bei seinem israelbesuch berührt von den alten damen, die ein stück europäischer kaffeehauskultur in israel pflegen. seinen besuch kommentierte jauch etwas naiv mit den worten: «das ist ein wenig traurig, denn diese damen hätten ihren platz hier in deutschland finden können.»

guggenheimer erzählt die geschichte so weiter: inzwischen heißen die frauen «hagwaroth migermania b’gil hazahav», was sich mit »die damen aus deutschland im goldenen alter« übersetzen lässt. etwa zehn seniorinnen umfasst das kränzchen, alle über 85, alle auffallend gepflegt – make-up, lippenstift, onduliertes haar, perlenohrringe. eigentlich müssten sie des lebens müde sein, denn das schicksal hat sie hart geprüft. sie stammen aus berlin, leipzig, essen, wien und anderen städten deutschlands und österreichs.

elsa jonas etwa kommt aus wien, lebt seit über 70 jahren im land und spricht allenfalls ein holpriges hebräisch. als sie einmal angesprochen wurde, ob sie sich nicht schäme, nach sieben jahrzehnten immer noch kein iwrit zu können, antwortete sie kleinlaut: «ja, ich schäme mich. aber es ist leichter, sich zu schämen, als hebräisch zu lernen.» ihretwegen wird am kaffeetisch «gezwungenermaßen» deutsch gesprochen.

70 weitere geschichten über menschen, situationen und institutionen präsentiert guggenheimer in seinem buch: geschichten zum schmunzeln, allesamt mit hohem wiedererkennungswert für jene, die tel aviv, dieses kronjuwel der architektonischen moderne mit seinen vielen häusern im bauhaus-stil, einmal besucht haben. er beschreibt in seinen erzählungen die seltsamen aspekte des alltagslebens in der stadt der vielen sprachen, was allein oft schon grund genug ist für vielerlei missverständnisse.

eine stadt, in der die einzige gay-parade des gesamten nahen ostens stattfindet, gegen die selbst die militante opposition der orthodoxen nichts ausrichten kann. und schließlich ist es eine stadt, deren straßen tag für tag so heillos verstopft sind, dass immer menschen zu spät zur arbeit kommen, und wo eine aus dem iran abgefeuerte rakete, die nach drei minuten in tel aviv einschlagen könnte, eine weitere stunde benötigen würde – so witzelt man hier –, bis sie einen parkplatz gefunden hat.

tel aviv ist anders – weil es so normal und zugleich auf unspektakuläre weise sehr israelisch ist. in dieser kombination kommt die stadt einer rettungsinsel in einem oft von irrsinn geplagten land gleich. tel aviv ist ein ort, der nicht mehr zu europa gehört, aber europa sein möchte – und ein bisschen die politischen probleme verdrängt.

niemand redet von außenpolitischen konflikten, dafür von gestiegenen mieten. es ist eine kurzweilige lektüre, die michael guggenheimer dem leser offeriert, und eine liebeserklärung an die stadt seiner kindheit – witzig, ironisch, meschugge und ein wenig frech, was auch für die fotos gilt. ein lesebuch für freunde dieser stadt und für alle, die tel aviv demnächst kennenlernen sollten.

michael guggenheimer: »tel aviv. hafuch gadol und warten im mersand«.
edition clandestin, biel 2013, 192 s., 19 €

dr. benigna schönhagen, jüdisches museum in augsburg:

tel aviv – die weiße, von harmonischer bauhaus-architektur und exzentrischen hochhäusern geprägte stadt am mittelmeer, 1909 von furchtlosen zionisten gegründet, zweitgrößte stadt israels. doch ein blick auf den untertitel zeigt, dass wir keinen handlichen stadtführer über die hippe stadt und auch keine um wissenschaftlichkeit bemühte landeskundliche darstellung der stadt erwarten dürfen.
mir sind beim blättern, drehen (!), anschauen und lesen nicht nur viele erinnerungen an aufenthalte in tel aviv gekommen, sondern auch das graduiertenprojekt makom eingefallen, das vor einigen jahren an der universität potsdam lief. es hat sich mit den vielen unterschiedlichen facetten der bedeutung von orten und räumen im judentum befasst, mit den anderen deutungen, die ein leben in der diaspora und wiederholt von ausweisungen gezeichnet, eben mit sich brachte. was dieses projekt wissenschaftlich dargestellt hat, zeigen michael guggenheimers skizzen auf unterhaltsame und witzige, auf nachdenkliche und karikierende weise. die beziehungen und bezüge, die ihn mit tel aviv verbinden, sind vielschichtig, bunt und ambivalent. sie sind ebenso persönlich wie grenzüberschreitend, voller brüche, ungewohnten interpretationen, annäherungen, leiser beobachtungen und neuer deutungen. das einigende band ist seine biographie: hinter tel aviv tauchen die anderen orte seiner biografie und der seiner familie auf: so schlägt er den bogen von tel aviv nach amsterdam, ins südfranzösische cahors, ins schlesische görlitz und eben auch nach augsburg.

(an der lesung in augsburg am 16. 10. 2013)

hagalil.com, berlin, 6. dezember 2013

eine amüsante sammlung von michael guggenheimers erzählungen zu kuriosen alltagsaspekten von israels metropole…

die bauhausstadt am mittelmeer ist eine insel. wer durch tel aviv flaniert, glaubt kaum, dass die pulsierende stadt in einem land liegt, das sich seit jahrzehnten im kriegszustand befindet. breite baumbestandene boulevards, eine lange strandpromenade und ein blauer himmel prägen die stadt, die unter einem anderen namen erst zu beginn des 20. jahrhunderts gegründet wurde.

in seinen erzählungen schildert michael guggenheimer menschen, situationen und institutionen der stadt, in der er aufgewachsen ist, die er als schüler verlassen hat und die er seit einigen jahren regelmässig aufsucht. texte, die einblick in eine zeitspanne von den 50er jahren bis heute vermitteln sowie fotos aus der stadt, von der es heisst, sie schlafe nie, hat er in einer anthologie versammelt.

wer tel aviv schon kennt, wird trotzdem spaß an der lektüre haben, denn michael guggenheimer ist zwar als tourist in tel aviv unterwegs, man merkt jedoch seine intime beziehung zur stadt. situationen, die ein “normaler tourist” nicht kennt, sei es die suche nach dem auto im parkhaus oder die diskussionen mit freunden um übersetzungen aus dem hebräischen, werden zum kurzweiligen lesevergnügen. einzig schade, der hohe verkaufspreis… eine hör-cd ist in vorbereitung.

michael guggenheimer, tel aviv- hafuch gadol und warten im mersand, 192 s., hardcover, edition clandestin 2013, euro 29,00

kultur vor ort , wiesbadener kurier, 01.02.2014

ein gutes café in der nähe

michael guggenheimer warum schreibt ein schweizer über görlitz und tel aviv? / lesung in wiesbaden

wiesbaden – michael guggenheimer schreibt, fotografiert, betreibt kulturgeschichte und als präsident des schweizer pen aktuelle kulturpolitik. guggenheimer, aufgewachsen in tel aviv und amsterdam, lebt in zürich und hat zwei städtebücher publiziert: „görlitz“ (2004) und „tel aviv – hafuch gadol und warten im mersand“ (2013). aus beiden liest er im literaturhaus villa clementine am 6. februar. kooperationspartner der veranstaltung sind der polnische kultursalon und der presseclub wiesbaden.

herr guggenheimer, eigentlich lieben schweizer ihre berge, kuhglocken und alphörner. sie lieben stattdessen städte. was hat die stadt, das landschaft nicht hat?

bei jeder wahl einer neuen wohnung hat bei mir die nähe eines gut ausgestatteten zeitungs- und zeitschriftenkiosks ebenso eine rolle gespielt wie die nähe der nächsten buchhandlung. und ein gutes café musste sich in der nähe befinden. zeitungen, bücher und cafés sind in der stadt eher anzutreffen als auf dem land.

in ihren büchern „görlitz“ und „tel aviv“ schreiben sie über städte, die mit ihrer familie und mit ihnen selbst verbunden sind. wie viel biografische aufarbeitung steckt in ihrem schreiben?

ich habe beide städte „verpasst“ und musste versäumtes nachholen. görlitz war die stadt meiner mutter. eine stadt, die sie fluchtartig verlassen hatte und die ich lange nicht kannte. ich wollte sie für meine mutter wieder gewinnen und entdecken. tel aviv war die stadt, die ich gegen meinen willen als kind abrupt hatte verlassen müssen. ich wollte unbedingt wieder nähe zum ort meiner kindheit zurückholen.

die familie ihrer mutter stammt aus der wiesbadener partnerstadt görlitz. zu welcher zeit hätten sie selbst in dieser stadt leben wollen?

mir wurde ein barockes haus in der görlitzer altstadt zum kauf angeboten. damals zu einem spottpreis. ich überlegte allen ernstes, ob ich mich nicht für drei jahre dort niederlassen sollte, tat es dann aber nicht. görlitz heute, die nähe zu polen übt eine anziehungskraft aus. ihre frage macht mich unsicher: hätte ich nicht doch dorthin ziehen sollen? jetzt ist dort in der alten synagoge ein kleines literaturhaus geplant. ob das ein grund wäre, einige monate wieder in görlitz zu wohnen?

ihre kindheit haben sie in tel aviv verbracht. wie oft sind sie seitdem in diese stadt zurückgekehrt?

über 40 jahre lang war ich nicht in tel aviv. heute versuche ich, die stadt jedes jahr während zwei wochen zu besuchen. zwölfmal? 15-mal? ich weiß es nicht. es ist so wie mit den flügen: zu beginn weiß man ganz genau, wie oft man geflogen ist, irgendwann weiß man es nicht mehr.

ihre texte beschreiben sehr nah und direkt situationen und personen. wie entsteht ein solcher text?

ich fotografiere jeden tag. nicht nur in tel aviv. häufig sind die fotos textauslöser. in israel ist es leicht, mit menschen in ein gespräch zu kommen. und sie alle erzählen gerne geschichten. ich höre zu, nehme etwas auf, verändere es. so sind meine texte eine mischung aus gesehenem, gehörtem, erlebtem und erfundenem.

wie viel fiktion steckt in den texten?

in prozenten ausgedrückt? schwierig, schwierig! in den autobiografischen texten fehlt die fiktion. in den anderen – in ihrer frage merke ich, dass sie mich durchschaut haben – mischen sich realität und fiktion. 30 zu 70? manchmal fifty-fifty?

ihr jüngstes buch „tel aviv“ hat eine außergewöhnliche gestaltung. man muss es beispielsweise drehen, um es lesen zu können. wie gern überraschen und spielen sie?

oh, meine frau findet, ich spiele zu wenig. sie liebt brettspiele. meine frau meint auch, ich könne überraschungen nicht für mich behalten. auch da hat sie recht. ach jeh, jetzt merken sie, ich spiele gerne. mit der sprache ganz gewiss. ach ja, ich gebe zu, ich spiele gern.

wie ist ihr buch zu lesen – als ein geschichtsbuch, ein reisebuch, ein lesebuch …?

ein geschichtenbuch, ein reisebuch, ein buch der rückkehr, ein türöffner für eine stadt.

wenn sie am 6. februar ihr buch in wiesbaden vorstellen, was verbinden sie mit dem namen dieser stadt?

wiesbaden ist eine partnerstadt von görlitz. und sie soll wunderbare architektur der gründerzeit haben. der name gottfried kiesow fällt mir ein, das war doch ein wiesbadener. ihn habe ich in görlitz kennengelernt. er erzählte mir, dass er ehrenbürger beider städte sei. und meinte, wiesbaden würde mir sicher auch sehr gefallen. ich werde mir am 6. oder am 7. februar genügend zeit nehmen, um mir wiesbaden anzuschauen und fotos zu machen. wer weiß, vielleicht werden dann texte und bilder zu wiesbaden in meinem blog zu lesen

das interview führte viola bolduan

wiesbadener kurier, 8.2.2014
kultur vor ort

michael guggenheimer zu gast im wiesbadener literaturhaus

von richard lifka

wiesbaden – was haben görlitz, die größte geteilte stadt europas und die bauhaustil-stadt, «die niemals schläft», tel aviv, gemeinsam? zumindest michael guggenheimer, der über beide städte jeweils ein buch geschrieben hat, weil dessen eigene biografie mit beiden orten eng verwoben ist. aus der partnerstadt wiesbadens floh die familie seiner mutter 1933 nach tel aviv, wo nun er geboren wurde und zur schule ging. danach trieb es seine eltern nach europa zurück, zunächst nach amsterdam. heute lebt guggenheimer in der schweiz, ist autor, fotograf, kulturnetzwerker, moderator, vorsitzender des deutsch-schweizer pen zentrums und noch einiges mehr.

seine muttersprache sei iwrit (das moderne hebräisch), er schreibe aber in deutsch und sei kein schriftsteller, sondern texter, sagt der dunkel gekleidete mann, und beantwortet die wohlformulierten und präzise gestellten fragen der moderatorin viola bolduan (presseclub). eingeladen hat der deutsch-polnische kultursalon «pokusa» in kooperation mit dem wiesbadener presseclub und dem literaturhaus. viele sind gekommen und keiner hat es bereut.

format und stil

zunächst las der autor aus dem buch «görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft». auf der suche nach den wurzeln seiner vorfahren erschreibt sich guggenheimer die stadt und lässt gegenwart und vergangenheit ineinanderfließen. noch viel eindringlicher und intensiver wirkten die geschichten, die er aus seinem 2013 erschienenen buch las: «tel aviv – hafuch gadol und warten im mersand». nicht nur der titel bedarf der erklärung (hafuch gadol ist ein großer milchkaffee und mersand der name eines traditionsreichen und beliebten cafés in tel aviv), sondern auch die buchgestaltung, auf die der verlag großen wert und viel liebe verwandt hat. beim versuch, das format und die art des lesens auf einem elektronischen gerät nachzuahmen (von oben nach unten scrollen), kommt das buch in ganz eigenem stil daher. zusammen mit fotografien des autors, kreativen und verliebten details, ist ein gesamtkunstwerk entstanden, das sicherlich in dieser art einmalig ist und bleiben wird.

atmosphäre der stadt

genauso wie die intensität der gelesenen texte. ob guggenheimer vom club der älteren, aus europa stammenden, damen mit ihren philippinischen betreuerinnen erzählt, der sich werktäglich im café mersand trifft, die atmosphäre der stadt am sabbat zeichnet, über die probleme der zweisprachigkeit oder die «problemlosigkeit» einer taxifahrt berichtet, stets entstehen den zuhörern die entsprechenden bilder im kopf. auch die unterschwellige, aber permanente angst vor bombenattentaten konnte nicht den wunsch trüben, die «weiße stadt am meer» endlich einmal zu besuchen. ein gelungener abend mit einprägsamen texten, einem sympathischen autor und einer exzellenten moderation, die das publikum mit einem extraapplaus honorierte.

tel aviv – «hafuch gadol und warten im mersand»

michael guggenheimer liest aus seinem neuen buch kurzgeschichten vom ostrand des mittelmeers.

am 15. märz zweimal in leipzig,
am 27. märz in zürich,
am 17. april in bad ragaz,
am 14. mai in görlitz,
am 15. mai in dresden,
am 16. mai in halberstadt,
am 22. mai in st.gallen,
am 28. mai in hohenems,
am 30. mai in biel,
am 6. juni in berlin,
am 6. august im schloss heidegg, gelfingen,
am 10. september in reykjavik,
am 17. september in bern,
am 2. oktober an der eth zürich,
am 14. oktober in eisleben (d),
am 15. oktober in münchen,
am 16. oktober in augsburg,
am 20. oktober in freudental (d),
am 26. oktober in zürich,
am 27. oktober in bern,
am 2. november in biel,
am 7. november in düsseldorf,
am 12. november in luzern,
am 17. november in frankfurt,
am 21. november in ramat gan,
am 25. november tel aviv
am 28. november in zürich,
am 15. dezember in solothurn,
am 24.jauar 2014 in zürich
am 6. februar 2014 in wiesbaden,
am 10. februar 2014 in st.gallen
am 14. märz 2014 in leipzig
am 8. mai 2014 in gottlieben
am 20. juni 2014 in frankfurt.