eva bachmann im st. galler tagblatt, 23. august 2004
am grenzfluss von ost und west
michael guggenheimer beschreibt eine stadt in schichten: görlitz
der geteilten stadt görlitz/zgorzelec an der neisse gilt michael guggenheimers interesse. ausgehend von eigenen erinnerungen findet er in der geschichte «spuren einer zukunft».
mein erstes interesse ist ein berufliches: am buch eines autors, der 20 jahre in st. gallen gelebt und mit publikationen zum steindrucker urban stoob, zum clown pic oder zuletzt mit «saiteneingänge – geschichte einer städtischen kulturzeitschrift» hiesiges kulturschaffen begleitet hat. zunehmend aber zieht die beschriebene stadt selber das interesse auf sich: görlitz, im äussersten osten deutschlands an der neisse gelegen, seit ende des zweiten weltkriegs vom polnischen teil, zgorzelec, geteilt.
bei michael guggenheimer ist das erste interesse ein familiäres. seine jüdische mutter ist 1933 gerade noch rechtzeitig aus ihrer heimatstadt weggegangen. 60 jahre später kehrt sie mit ihrer familie erstmals zurück und reist auch gleich wieder ab. doch den sohn lässt diese stadt nicht mehr los. aus seinen entdeckungsreisen ist jetzt ein buch geworden: «görlitz. schicht um schicht – spuren einer zukunft». geschichte und zukunft, schon im untertitel kühn vereint, werden im text eng geführt.
zurück in die zukunft
ausgangspunkt aller entdeckungen ist der autor, der durch die stadt geht und erinnerungen wachruft, die er gar nicht haben kann. alte familienfotos, ein schlüssel, namen bringt er in gedanken zurück in diese stadt, in ihre ursprüngliche umgebung. er lässt sich geschichten erzählen und denkt sich geschichten aus, zur jugendstil-fleischerei, zum grandcafé, zum ballsaal im wilhelmtheater und zu grossvaters platz in der peterskirche. das bild einer lebendigen, reichen stadt entsteht, 100 000 menschen lebten vor dem krieg in görlitz. im jahr 2003 waren es nicht einmal mehr 60 000. görlitz, obwohl nie bombardiert, ist zerfallen. viele häuser stehen leer. als östlichste stadt im abgewirtschafteten osten gibt es hier kaum mehr ein auskommen. jeder vierte ist arbeitslos. wo sind hier ansätze einer zukunft? mit dieser frage wird im autor der rechercheur wach, die erinnerungsliteratur geht in eine art aufspürjournalismus über. guggenheimer porträtiert menschen und projekte, die ruinen mit neuem leben füllen wollen. aus liebe zu einer stadt, die der autor teilt – nicht immer bleibt er darum neutraler rapporteur, seine ideen und manchmal sogar ratschläge hält er nicht zurück.
im osten des westens
einer der spannendsten aspekte ist das verhältnis zum polnischen zgorzelec. die geeinte stadt lag einst mitten in schlesien, am weg von dresden nach breslau. erst nach der künstlichen grenzziehung entlang von oder und neisse wurde der östliche teil polnisch. trotz sozialistischer völkerfreundschaft entwickelten sich die beiden städte an der stark befestigten grenze völlig unterschiedlich. zgorzelec im westen polens – görlitz im osten deutschlands. zgorzelec blühte auf – görlitz dagegen blieb abgehängt. während in zgorzelec fleissig deutsch gelernt wird, ist görlitz das bollwerk gegen die ungeliebten osteuropäer. doch die verhältnisse kehren sich allmählich um. görlitz hofft auf die polen: während sich menschen aus dem westen höchstens als «erinnerungstouristen» so weit in den osten wagen, sind polen zu kunden von görlitz geworden. sie kommen zum einkaufen, zum essen und ins theater über die grenze. dem geschäft zuliebe lernen manche görlitzer nun auch polnisch – skeptisch bleibt man aber weiterhin: was, wenn die polen dereinst die niederlassungsfreiheit in der eu erhalten? werden sie dann görlitz übergehen und weiter in den westen ziehen?
geschichten, gesichter
für michael guggenheimer ist klar, dass das kapital dieser stadt in ihrer brückenfunktion über die deutsch-polnische grenze liegt. der aufbau einer zukunft müsste also ein gemeinsames projekt sein. doch die hindernisse der grenze sind immer noch hoch. einige haben bereits entmutigt aufgegeben. schon nur der bau neuer brücken oder einer strassenbahn, die beide stadtteile verbindet, sind langwierige vorhaben. ein ansatz wäre kulturelle arbeit – und mit dem projekt kulturhauptstadt ist auch eine neue aufbruchstimmung in die stadt gekommen. der autor zeigt probleme wie chancen an konkreten beispielen auf. selten nur bleibt er an einer reiseführer-oberfläche. zu jedem haus erzählt er seine geschichte, jedes projekt ist an menschen mit ideen und initiative geknüpft.
exemplarisch
aber: wer interessiert sich schon für görlitz? michael guggenheimers buch ist zuerst seinem eigenen interesse geschuldet. aus seiner neugier und seinem enthusiasmus für diese stadt hat er etwas zu erzählen – und er erzählt es so, dass es interessiert. das buch richtet sich an niemanden und an alle. darin ist es literarisch. es beschreibt eine stadt zwischen wende und eu-osterweiterung. darin ist es faktisch. auch wer (noch) nicht vorhat, nach görlitz zu fahren, findet in diesem buch exemplarisches über das verhältnis von west- und osteuropa, über stadtentwicklung und über den umgang mit historischer substanz. den sorgsamen umgang mit dem alten pflegt der autor übrigens bis in die sprache. besonders schön sind die fundstücke im anhang, wo verschwundenes wie «willkommen in der grössten stadt niederschlesiens auf dem territorium der bundesrepublik deutschland» oder «strasse der kraftwerker» zusammengetragen wird. fast dreihundert seiten als paperback sind zwar nicht gerade praktisch, dafür hat sich der verlag typografisch grösste mühe gegeben. eingerückt wurden auch einige fotos von guggenheimer in vignettengrösse. die geschilderten gespräche in den fotogeschäften von görlitz und zürich wecken weiteres interesse – an einem bildband.
michael guggenheimer: görlitz. schicht um schicht – spuren einer zukunft.
lusatia verlag, bautzen 2004, fr. 22.60
copyright © st.galler tagblatt
eine publikation der tagblatt medien
helmut ograjenschek im blick (zürich), 28. september 2004
erinnerungen: görlitz ist nicht überall
autor michael guggenheimer, schweizer autor mit ost-preussischen wurzeln.
inhalt alte familienfotos, ein schlüssel, ein paar namen – sie führen den autor zurück in die stadt seiner jugend, zurück nach görlitz, im äussersten osten deutschlands gelegen. seit dem ende des zweiten weltkrieges ist dieses städtchen zweigeteilt: in den westlichen teil görlitz und den polnischen teil zgorzelec. hier war die zeit stehen geblieben und hatte dennoch einen sprung getan. der verputz an den verwitterten häusern ist jahrzehntealt, die häuser selbst wirkten grau und altersschwach und der geruch nach kohle liegt in der luft. guggenheimer lässt sich geschichten erzählen und denkt sich geschichten aus. etwa jene zur jugendstilmetzgerei, zum grandcafé, zum ballsaal im wilhelmstheater und zu grossvaters platz in der peterskirche. menschen und projekte werden porträtiert, die ruinen mit neuem leben füllen wollen. und er zeigt noch etwas anderes auf – das immer noch gestörte verhältnis zwischen polen und deutschen: während in zgorzelec fleissig deutsch gelernt wird, ist görlitz bollwerk gegen die ungeliebten polnischen nachbarn. görlitz? «wenn ich von görlitz erzähle, wird sofort nachgefragt, wo das ist», sagt der autor. wen es interessiert: görlitz liegt an der lausitzer neisse.
kritik ein überaus sorgsamer umgang mit der sprache. interessant, aber kompliziert, der leser wappne sich mit geduld.
katharina holländer im magazin tachles, 29. oktober 2004
görlitz
seit jahren lässt sie ihn nicht los: die stadt görlitz, die östlichste stadt deutschlands. michael guggenheimer hat eine unauffällig das wasser im munde sammelnde ortsbeschreibung aufgetischt, garniert mit der besonderen zuneigung von einem, der auszog, die stadt seiner mutter zu besuchen, und der, dessen biografie ihn selber an verschiedenen stationen abgelegt hatte, einen bezaubernden ort findet, einen ort der mitte, der grenze, der geschichte, vergangener und zeitgenössischer geschichte. doch der autor fällt nicht in eine durchgehende erzählung, er fügt kurze kapitel zu einem «langen text», der von statistik, fahrplänen und touristischer zukunft bis zu persönlicher begeisterung, geheimtipps und der eigenen geschichte reicht.
ute grundmann in der wochenzeitung «das parlament» (berlin) vom
8. november 2004
rückkehr nach görlitz / von ute grundmann
die fremde und doch nahe stadt
lange zeit war görlitz für michael guggenheimer «nur eine fantasie» – der name einer stadt, in der seine mutter geboren wurde. die jüdische familie musste 1933 vor den nationalsozialisten fliehen; die wanderung im riesengebirge, die man den kindern ankündigte, war der weg ins exil. 60 jahre später steht das mädchen von damals, nun mit mann und sohn, wieder auf dem görlitzer obermarkt. einen stadtplan braucht sie nicht; sie will aber nach zwei stunden lieber nach dresden zurück. der sohn jedoch kommt immer wieder, er will die fremd-nahe stadt kennenlernen und schreibt ein besonderes buch darüber.
das buch beginnt an den orten der familie, der schule der mutter, der praxis des grossvaters. doch auch wenn er die synagoge («ein tempel ohne gläubige») und die ehemalige aufbahrungshalle, heute ein werkhof, besucht – es ist kein buch ausschliesslich auf den spuren der familie oder der juden, die einst in görlitz lebten. guggenheimer, bis vor kurzem informationschef der schweizer kulturstiftung pro helvetia, macht sich auf die suche nach «spuren einer zukunft», so der untertitel des buches.
es ist der teilnehmend-neugierige blick eines menschen, dem die stadt und ihre besondere geschichte näherrückt. was er schreibt, kann man auch als reiseführer lesen, aber es ist viel mehr. 200 jahre stadtgeschichte findet er auf dem barocken friedhof oberhalb der nikolaikirche. er versucht, sich die stille vorzustellen, die nach der sprengung der brücke zum östlichen stadtteil geherrscht haben muss. die deuschen hatten diese verbindung gegen kriegsende gesprengt – polen bauten sie wieder auf.
doppelstadt in europa
heute verbindet görlitz und zgorzelec wieder mehr als eine brücke. dass die beiden einst zusammengehörenden stadtteile nun einen weg als «doppelstadt in europa» suchen, fasziniert guggenheimer, aber er bleibt kritisch dabei. es gebe gemeinsame stadtratssitzungen, merkt er an, aber noch immer werde bei diesen treffen ein dolmetscher gebraucht. in zweisprachigen klassen lernten viel mehr polnische kinder deutsch als umgekehrt. in den kaufhäusern der stadt aber sollte man polnisch sprechen können – schliesslich kommen 30 bis 40 prozent der kunden von jenseits der neisse.
guggenheimer hat immer wieder fragen an görlitz, das ihm als «freilichtmuseum aus altstadt und gründerzeitquartieren» erscheint. die randlage könne mit mit der eu-erweiterung zur chance werden, doch die görlitzer seien zu viel mit sich selbst beschäftigt. immer wieder fährt er durch die stadt: da ist die östlichste gaststätte deutschlands, die «vierradenmühle», wo früher kuchen und blinis per seilbahn die seiten wechselten. in der strasse «handwerk» findet er textilkunst über die grenze hinweg. gegen fehlende arbeitsplätze und geringe kaufkraft vermisst er «visionen», findet höchstens ansätze dazu. die häuser und strassen aber bleiben nie abstrakt. guggenheimer erzählt ihre geschichte anhand der menschen, die dort leben, die teils von weit her kamen – wie er.
michael guggenheimer
görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft
lusatia verlag, bautzen, 2004, 288 seiten, 12,90 euro
hans steiger im wochenmagazin «ps», zürich, 18. november 2004
weggehen und ankommen – grenze als chance
görlitz/zgorzelec: ein spezieller reiseverführer.
ein urbanes ziel mit eigenem flair: görlitz. zwar sei die altstadt im deutschen teil dieses geschichtsträchtigen grenzorts an der neisse «manchen besuchern etwas zu still», dafür ist sie «eine idylle», schreibt michael guggenheimer in seinem buch «görlitz. schicht um schicht – spuren einer zukunft». noch lässt offenbar die verbindung zum polnischen zgorzelec zu wünschen übrig, doch seit mai dieses jahres ist die doppelstadt ein idealer ort, um die dynamik der eu osterweiterung direkt zu erfahren. gründe, sich da zumindest einmal umzusehen, gibt es viele. kaum einen davon lässt der in zürich lebende, in tel aviv und amsterdam aufgewachsene autor, aus. ein strenges lektorat hätte dies und jenes kürzen können. doch der verlag liess raum für details, die wohl selbst einheimischen einiges nahebringen, was ihnen «aus ihrer stadt unbekannt oder für sie nicht von belang» war. etwa die vielfältigen verknüpfungen mit der schweiz. auch einige «helvetismen in der sprache» durften bleiben. und so liegt nun eine grosse, mit herzblut geschriebene werbeschrift und liebeserklärung für görlitz vor, aus dem die mutter des autors floh, 1933. mit ihr hat er es sechzig jahre danach besucht. und seitdem immer wieder. «ich bin nicht von hier, fühle mich aber von dieser stadt angezogen. die stadt ist wie eine geliebte, die ich regelmässig aufsuche.»
mich hat das buch angeheimelt, weil ich in jener nach-wende-zeit nördlich davon greifswald kennenlernte. von der stimmung her, ja bis in die details sah ich eigene eindrücke beschrieben: «der geruch von kohle lag in der luft. schaufenster aus den fünfziger jahren waren in liebloser weise mit produkten aus dem westen gefüllt.» zwischen grünen und hellblauen trabis fuhren die «zeichen der neuen zeit». obwohl die menschen offen waren, war viel unsicherheit zu spüren, denn «die aus dem westen wissen es besser. immer». umso mehr freude, wenn der fremde ihren strittmatter kennt und schätzt. das mit dem bröckelnden verputz allerdings änderte sich, in görlitz und greifswald, in allen städtchen und städten der ehemaligen ddr. aber von den jetzt renovierten altbauten sind viele ohne leben; für sanierte plattenbauten bestehen schon abrisskonzepte. denn die einwohnerzahlen sinken jahr zu jahr. zu wenig arbeitsplätze. nicht selten sind es zugezogene, die mit geld und mut kamen, um den ökonomischen absturz aufzufangen. davon zeigt das buch manch eindrückliches beispiel. auch von polen her kommt neue bewegung. was daraus wird? hingehen und sehen. vielleicht mit vorteil vor 2010, wenn görlitz/zgorzelec offiziell zur europäischen kulturhauptstadt werden möchte, «inmitten einer sich wandelnden und sich neu gestaltenden region».
sächsische zeitung (dresden) vom 20. november 2004
ein schweizer entdeckt die geteilte stadt
frank seibel im gespräch mit michael guggenheimer
herr guggenheimer, sie lesen in der schweiz vor großem publikum aus ihrem neuen buch. warum ist dort das interesse an görlitz so groß?
das ist schwer zu sagen. aber es ist so: vor drei jahren musste ich immer noch erklären, was und wo görlitz ist. heute ist görlitz in bestimmten kreisen einfach ein begriff.
die stadt arbeitet seit jahren daran, bekannter zu werden. da hat sich also erkennbar etwas bewegt?
auf jeden fall. und das hat sicherlich mit der bewerbung als kulturhauptstadt zu tun. presse und fernsehen berichten in der schweiz immer wieder über görlitz als bewerberstadt für 2010. übrigens wurde gerade vor kurzem auch relativ viel über den mauerfall vor 15 jahren berichtet. und wiederholt war von görlitz die rede.
trotzdem tut man sich hier bisweilen etwas schwer, den stolz auf diese besondere stadt zu bewahren und zu zeigen.
das kann ich nachvollziehen. jeder mensch hat seinen alltag mit all seinen sorgen und kleinen freuden. man verliert den blick für dinge, die fremde selbstverständlich sofort entdecken. sehen sie: ich lebe in zürich. zürich gilt als ziemlich ?hip? zurzeit. aber wenn man hier lebt, ist das alltag.wenn ich aber in zürich erzähle, dass ich nächste woche in görlitz eine kleine straße hinunterlaufen werde, dann eine brücke überquere und in polen sein werde ? dann sind hier alle fasziniert. in der schweiz kennt man zwar zwei zweisprachige städte, aber keine geteilten städte.
sie berichten in ihrem buch von ihrer mutter, die mit ihren eltern die stadt 1941 fluchtartig hat verlassen müssen, weil sie jüdin ist. ihre mutter ist beim ersten besuch in görlitz vor zehn jahren nach zwei stunden wieder in richtung dresden abgereist.
ja, sie hat es nicht ausgehalten. dabei dachte ich, ihr eine freude zu machen, mit ihr in die stadt ihrer kindheit zu gehen. aber mittlerweile ist meine mutter mit görlitz versöhnt. sie war zur buchpremiere im juni hier und ist nun auch fasziniert.
warum sind sie wiedergekommen. warum haben sie sich auf die stadt so sehr eingelassen, dass sie ein buch als liebeserklärung geschrieben haben?
mich hat das stadt-ensemble beeindruckt. die altstadt, die gründerzeitviertel ? das hatte ich nie erwartet. und von da an bin ich jedes jahr wiedergekommen.
haben sie keine bitterkeit verspürt? immerhin hat die stadt während des nationalsozialismus nicht nur ihre familie vertrieben oder umgebracht.
nein, bitterkeit habe ich nie verspürt. ich bin ja erst nach dem krieg geboren worden und in tel aviv aufgewachsen. ich war zwölf jahre alt, als ich das erste mal nach europa gekommen bin. aber starke vorurteile gegenüber deutschland hatte ich, gewiss. die haben sich jedoch relativiert, als ich land und leute kennen lernte.
in görlitz haben sie große potenziale entdeckt, aber auch viele defizite. beispiel? europastadt?
ja, ich glaube, man könnte die potenziale der stadt noch viel mehr nutzen. ich verstehe nicht, warum so wenige görlitzer? auch politiker? polnisch lernen. für mich ist es in der schweiz lebensnotwendig, dass ich französisch spreche. hier müsste man doch auch die sprache lernen, die auf der anderen seite des flusses gesprochen wird. es gehen gerade mal drei, vier görlitzer kinder in zgorzelec in den kindergarten. es müssten 50 sein!
und doch halten sie die bewerbung als kulturhauptstadt nicht für vermessen?
nein, denn die potenziale sind eindeutig da. in dieser grenzlage steckt eine große chance. ich bin überzeugt, dass die stadt und die region gute zukunfts-chancen hat, wenn sie sich auf ein wirkliches miteinander mit den polnischen nachbarn einlässt.
gespräch: frank seibel, leiter der stadtredaktion görlitz der sächsischen zeitung
michael guggenheimer liest am kommenden dienstag, dem 23. november, um 19.30 uhr im «gleis 1» der sz. karten für 3 euro gibt es im sz-treffpunkt, jakobstraße 32 und an der abendkasse.
sächsische zeitung (dresden) vom 23. november 2004
michael guggenheimer zeigt den görlitzern ihre stadt durch seine brille
von frank seibel
die zukunft entdeckt man über die vergangenheit. das ist eine entdeckung, die michael guggenheimer in den vergangenen zehn jahren in und mit görlitz gemacht hat. mit seiner mutter machte er sich vor zehn jahren erstmals auf die suche nach den spuren seiner familie? einer jüdischen arztfamilie, die 1933 die geliebte heimatstadt görlitz verlassen musste. auf diesen spuren entdeckte guggenheimer, der in tel aviv und amsterdam aufwuchs, eine für ihn bis dato völlig unbekannte stadt. eine stadt mit reicher bürgerlicher kultur, mit großen, international renommierten unternehmen, mit einer nie geahnten architektonischen pracht.
wieder und wieder verließ michael guggenheimer zürich, um «sein» görlitz weiter zu entdecken. und er entdeckte eine gute portion zukunft unter großen bergen von problemen, die sich in den vergangenen jahren aufgetürmt haben. frei von den innerdeutschen ost-west-konflikten und befindlichkeiten, entdeckt er, der schweizer, die verschiedenen milieus der stadt, lässt sich von unermüdlichen machern faszinieren, die der stadt ihre zukunft geradezu abringen. aber er sieht auch die defizite, die widersprüche zwischen großer polit-lyrik von der prima «europastadt» einerseits und der buchstäblichen sprachlosigkeit im deutsch-polnischen nebeneinander.
eine liebeserklärung an görlitz hat ein rezensent in der schweiz das buch genannt, das michael guggenheimer in diesem sommer fertig gestellt hat: «schicht um schicht. spuren einer zukunft.» guggenheimer selbst, der sympathische, dezente und humorvolle intellektuelle, räumt ein: «die stadt ist wie eine geliebte, die ich regelmäßig aufsuche.»
sächsische zeitung (dresden) vom 25. november 2004
«görlitz ist wunderschön, aber…»
von rene tschoppe
das was die görlitzer im täglichen leben nicht mehr sehen – michael guggenheimer entdeckt die schätze der stadt neu und sieht perspektiven. am dienstag las er im «gleis 1», dem ehemaligen mitropa-restaurant im görlitzer bahnhof aus seinem buch «görlitz. schicht für schicht – spuren einer zukunft» und kam mit dem publikum ins gespräch.
der züricher autor hat sich görlitz in den vergangenen zehn jahren genauer angeschaut, als manch görlitzer es selbst im alltag tut. mit einer lupe ging er durch die stadt seiner mutter, um mehr das positive zu finden als das negative. denn auf ersterem ließe sich eine vielversprechende zukunft errichten.
nach einigen fakten zu seinem buch «görlitz, schicht um schicht – spuren einer zukunft» beschreibt er, wie görlitz in deutschland wahrgenommen wird. die verwechslung mit wörlitz, die stadt mit dem weltkulturerbe, hörte er oft. görlitz an der oder habe er sogar in einem «biermann-text» gelesen. es liegt bei polen: also in zeiten, wo man portugal besser kennt als den direkten nachbarn polen: muss die neißestadt sehr weit weg sein. «seit görlitz sich aber um die kulturhauptstadt bewirbt, liest man öfter was von der stadt. erst vergangene woche: eine ganze seite in der faz», so der züricher. die bewerbung ist richtig, bekennt er und erntet dafür spontanen beifall im beinahe ausverkauften «gleis 1».
michael guggenheimer hat in seinem buch 120 personen verarbeitet: hiergebliebene, hergezogene aus den alten bundesländern und weggezogene, die wiedergekommen sind. eins ist ihm immer aufgefallen: das große «aber». wenn diese personen görlitz über den klee loben, folgt immer ein «aber». «görlitz ist wunderschön, aber…», gibt er die worte eines neu-görlitzer bankers aus dem westen wieder.
bevor er die familie hoinkis und die geschichte der liebesperlen, als weltweit vertriebenes produkt aus görlitz, liebevoll und en detail beschreibt, nennt er noch einen riesigen vorteil der neißestadt: «görlitz ist grün» unberührte natur prägt die neißeauen. für guggenheimer ein unentdecktes potenzial. der westen industrialisiert und kommerzialisiert? der osten als alternative: nicht zersiedelt, nicht jeder meter verplant. der osten sei ruhiger, intakter, gelassener. und görlitz selbst hat viel: buchhandlungen, in denen jedes deutschsprachige buch über nacht zu haben ist; ein eigenes theater mit orchester. seit fünf monaten gibt es sein buch auf dem markt – mit erstaunlicher resonanz, deutschlandweit und vor allem in der schweiz. «in den fünf monaten hat sich wieder so viel verändert», schwärmt der schriftsteller. er nennt die altstadtbrücke und die bevorstehende wiederbelebung des «hotel monopol» am postplatz, aber auch die insolvenz von görlitze fleece. guggenheimer liest weiter: der erzählende teil beschreibt das erste eintreffen im jahr 1993. der erste besuch für ihn und den seiner mutter seit 1933, die mit ihren jüdischen eltern flüchtete. ebenso spannend, weil bekannt und doch fast vergessen, die namen, die görlitz einst prägten: straße der kraftwerker, ho-passage, stadion der freundschaft, bekleidungswerk wilhelm pieck – die liste ist lang und weckt erinnerungen bei seinen gästen.
am ende plaudert guggenheimer über alles: er bedauere, dass die görlitzer so wenig polnisch sprechen, er könne selbst den plattenbauten in königshufen etwas abgewinnen und hebt die gründerzeitviertel als das besondere an görlitz hervor.
«bleiben sie hier», appelliert er zum schluss an sein dankbares publikum.
woz/die wochenzeitung (zürich) vom 25. november 2004
michael guggenheimer – warten in görlitz
von veronika rall
der osten deutschlands, das sind gewöhnlich hiobsbotschaften: hohe arbeitslosigkeit, hartz iv, neue montagsdemonstrationen. selten nimmt sich jemand zeit, genau hinzuschauen, so genau wie michael guggenheimer nun in «görlitz». zunächst erzählt er die geschichte seiner familie: der grossvater mütterlicherseits, ein wohlhabender zahnarzt in der stadt, war 1933 einer der ersten jüdischen bürger, die görlitz fluchtartig verliessen, er hat es nie wieder gesehen.
guggenheimer wird zum suchenden, nach einer geschichte, aber auch nach einer gegenwart und einer zukunft. er findet die häuser, in denen seine verwandten lebten und arbeiteten, aber er findet ebenso eine stadt im wartezustand, durch die eine grenze verläuft, die das deutsche görlitz vom polnischen zgorzelec trennt. eine einstmals zu den reichsten gemeinden deutschlands zählende stadt, die heute unter armut, arbeitslosigkeit und fluktuation leidet und trotzdem den mut nicht aufgibt. guggenheimer hat mit vielen gesprochen: mit denen, die trotz allen politischen entwicklungen des letzten jahrhunderts dageblieben sind, mit anderen, die weggegangen sind, mit leuten, die aus dem westen kommen, und solchen, die es heute wegzieht.
und er hat sich vieles angeschaut: die häuser, die renoviert sind und trotzdem leer stehen. spazierwege, die in brachen enden. feste, hüben und drüben, während deren mentalitäten aufeinander prallen. restaurants und speisezettel, museen, schwimmbäder, hinterhöfe. geglückte initiativen, die neues leben in die stadt bringen, und fehlinvestitionen, fehlentscheide, die positive entwicklungen im keim ersticken. kurz: wer etwas über den zustand des ostens wissen will, wird in «görlitz» viel finden.
tages-anzeiger (zürich) vom 30. november 2004
die geteilte stadt im osten
von daniela janser
der in zürich lebende publizist michael guggenheimer hat ein buch über görlitz geschrieben. die geburtsstadt seiner mutter, aus der sie 1933 fliehen musste.
am anfang war eine reise. michael guggenheimer wollte mit seinen eltern zurück an ihre geburtsorte fahren. so kam er vor elf jahren zum ersten mal nach görlitz, der östlichsten stadt deutschlands, musste aber nach wenigen stunden wieder abreisen, weil seine mutter nicht länger dort bleiben wollte. ihre erinnerungen waren nicht gut, wie guggenheimer sagt. sie hatte görlitz 1933 als dreizehnjährige mit ihren eltern auf der flucht vor den nazis verlassen müssen. gerade noch rechtzeitig.
wenn der in tel aviv gross gewordene michael guggenheimer von görlitz erzählt, merkt man sofort, dass diese stadt heute für ihn faszinosum und anliegen zugleich ist. er ist seit jenem ersten kurzen besuch immer wieder zurückgekehrt und zeigt sich begeistert von der architektonischen schönheit und der bewegten vergangenheit: görlitz war schnittpunkt bedeutender handelsstrassen, wie etwa der via regia, die von santiago de compostela bis nach kiew führte. auch das nebeneinander von epochen, die man schichtweise durchquert, wenn man vom bahnhof in die stadt hineinspaziert, fasziniert ihn: «man beginnt im jugendstil, geht dann durch den barock und kommt schliesslich in der renaissance an. und wenn man die stadt am anderen ende wieder verlässt, dann landet man bei der sogenannten platte, diesen ddr-bauten aus den 60er- und 70er-jahren.»
werkstatt für wohnraum geplant
gleichzeitig gibt es da aber auch die grenze mitten durch die stadt. görlitz ist seit 1945 eine geteilte stadt, mit einer polnischen stadthälfte namens zgorzelec ennet dem fluss. mitte oktober ist nun im stadtzentrum eine fussgängerbrücke eröffnet worden. dazu guggenheimer: «bis jetzt war es nicht möglich, einfach so über den fluss zu gehen. man muss sich das vorstellen, das ist ein fluss, ungefähr so breit wie die sihl, mit etwas mehr wasser drin und erst jetzt kann man diesen fluss zu fuss überqueren um auf die polnische seite zu gelangen.» auch dass sich görlitz und zgorzelec für das jahr 2010 gemeinsam als kulturhauptstadt europas bewerben, ist für guggenheimer ein wichtiger schritt zur überwindung der herrschenden sprach- und kulturgrenzen. egal ob sie dann den zuschlag kriegen oder nicht.
guggenheimer selbst reist ungefähr zweimal pro jahr in den osten. als nächstes plant er eine art werkstatt, in welcher über wohnraum nachgedacht werden soll:«auf der polnischen seite der stadt herrscht eine grosse wohnungsnot, auf der deutschen seite hats 9000 freie wohnungen. das wär ein potential für tausende von menschen. im moment scheitert es noch an eu-bestimmungen und an vorurteilen, beziehungsweise ängsten». und vielleicht kann auch guggenheimers buch einen teil zum abbau dieser ängste beitragen. die übersetzung ins polnische wurde dieser tage abgeschlossen.
neue zürcher zeitung/nzz vom 22. januar 2005
görlitzer panorama
von markus ackeret
spurensuche an der neisse
im jahr von polens beitritt zur europäischen union ist die literatur über die deutsch-polnische grenze um eine eigenwillige publikation reicher geworden. der schweizer publizist michael guggenheimer hat ein facettenreiches buch zum thema vorgelegt, das ausschliesslich die stadt görlitz und ihr polnisches pendant zgorzelec behandelt – mit grosser persönlicher hingabe.
guggenheimer hat die südlichste und städtebaulich herausragendste der drei geteilten städte an der oder-neisse-linie nicht ausgewählt – sie ist ihm gleichsam zugefallen. mit 13 jahren hatte seine mutter 1933 zusammen mit ihrer jüdischen familie die stadt im angesicht der sich etablierenden nationalsozialistischen herrschaft verlassen, um erst 60 jahre später, in begleitung des sohnes, an die stätte der kindheit zurückzukehren. die erinnerungen der mutter und die zeugnisse der familiären vergangenheit waren bescheiden, aber sie motivierten guggenheimer zu einer langzeitstudie über görlitz, die vieles zugleich ist: sie ist in einem schmalen ersten teil eine erinnerung an die familie der mutter und eine selbstvergewisserung des autors, im hauptteil eine akribische darstellung des alltags in der mit architektonischen denkmälern gesegneten, aber unter ihrer randlage wirtschaftlich leidenden stadt. entstanden ist keine grosse reportage, sondern ein aus einzelnen kurzen, reportagehaften stücken bestehendes panorama – es sind porträts initiativer geister aus dem industrie-, handwerks-, kultur- und gewerbeleben, miniaturen über gebäude und projekte, über euphorie und pessimismus und über das verhältnis der deutschen zur polnischen stadt.
guggenheimers ziel ist die sensibilisierung für die stadt, für ihre bewohner und für den osten deutschlands überhaupt. das vorhaben bewegt sich auf einem schmalen grat, weil in der beschreibung und erläuterung des betont fremden – der stadt görlitz und der grenzregion – auch die gefahr lauert, dieses erst recht zum anderen zu stilisieren. michael guggenheimers görlitzer kaleidoskop, aus dem die grosse verbundenheit des autors mit seinem objekt spricht, eignet sich aber ohne zweifel zur annäherung an diesen vielfältig faszinierenden ort. umso mehr werden jene, die mit guggenheimer das erste mal an die neisse reisen, einen stadtplan in dem band vermissen.
michael guggenheimer:
görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft.
lusatia-verlag dr. stübner & co. kg, bautzen 2004.
288 seiten, fr. 22.60, euro 12.90.
elisabeth weiss
auf der büchertippseite der buchhandlung am hottingerplatz, zürich
auf den spuen der grenzstadt
görlitz, heute die östlichste deutsche stadt, lag vor dem zweiten weltkrieg im ungeteilten schlesien, 1945 wurde die deutsch-polnische grenze neu entlang der neisse – und damit mitten durch die stadt hindurch – gezogen. aus der hälfte im osten wurde zgorzelec. michael guggenheimer besuchte die stadt, in der seine jüdische mutter aufgewachsen war, dann aber mit ihrer familie 1933 vor den nazis fliehen musste, zum ersten mal 1993; von da an liess ihn die stadt nicht mehr los, er kehrte immer wieder, und heute kennt er görlitz sehr wahrscheinlich besser als mancher görlitzer. er schildert seine suche nach den spuren seines grossvaters in der stadt, doch bald weitet er seinen blick aus und erforscht die vergangenheit, die gegenwart und vor allem auch die mögliche zukunft der stadt, die seit mai 2004 nicht mehr an der eu-aussengrenze liegt. sein buch erzählt so nicht nur eine familiengeschichte, sondern auch eine stadtgeschichte – und von menschen, die über grenzen hinaus zu denken und zu leben versuchen.
michael guggenheimer:
görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft.
lusatia verlag, bautzen 2004. sfr. 22.60
görlitz. schicht um schicht – spuren einer zukunft
görlitz ist die östlichste stadt deutschlands. gleichzeitig ist sie die westlichste stadt polens. görlitz ist die größte stadt europas, die in zwei ländern liegt. die an der lausitzer neiße gelegene stadt wurde nach dem zweiten weltkrieg geteilt. der polnisch gewordene teil der stadt heißt zgorzelec. lange zeit haben beide stadthälften nur spärliche kontakte miteinander unterhalten. gemeinsam bewerben sie sich heute um die nominierung als europäische kulturhauptstadt 2010. michael guggenheimer geht in seinem buch der situation in der zweigeteilten stadt nach. in einem ersten erzählerischen teil schildert er die geschichte einer familie, die 1933 eine der damals wohlhabendsten städte deutschlands fluchtartig hat verlassen müssen. in einem zweiten teil zeigt er die probleme auf, mit denen die stadt heute konfrontiert ist: die zweifache randlage, die rund 9000 leeren wohnungen, die hohe arbeitslosenrate… gleichzeitig zeigt er auf, wo die chancen dieser stadt liegen könnten, deren bausubstanz den weltkrieg und die jahre der ddr-zeit unversehrt überstanden hat. in zahlreichen porträts geht michael guggenheimer menschen, bauten, plätzen und betrieben der deutsch-polnischen stadt nach. trotz ihrer randlage und trotz der hohen arbeitslosenrate glaubt der autor an die zukunft der brückenstadt an der sprachgrenze.
weitere informationen:
nzz am sonntag vom 30. januar 2005
europäische doppelstadt
von annette bingemer
manchmal müssen menschen an den ort ihrer herkunft zurückkehren, um sich mit ihrer familiengeschichte vertrauter zu machen – sie kehren heim, um nachzuspüren, wie sie wurden, wer sie sind. so auch michael guggenheimer, der in israel geboren wurde und in zürich lange für die schweizer kulturstiftung pro helvetia arbeitete. nur aus den erzählungen seiner mutter wusste er von ihrem elternhaus im deutschen städtchen görlitz an der neisse, wo sie geboren worden war und das ihre eltern 1933 vorsichtshalber verliessen. die flucht über prag und triest nach haifa erlebte die mutter als dreizehnjähriges kind.
ein erster gemeinsamer besuch in görlitz 1993 machte auf guggenheimer als feinsinnigen publizisten und wachen fotografen einen solch nachhaltigen eindruck, dass der ort ihn fortan nicht mehr losliess. er kehrte viele male zurück und legte «schicht um schicht» seine eigene vergangenheit frei, darüber hinaus aber auch das schicksal dieses städtchens und das seiner bewohner. in einem buch hat er nun diese erlebnisse und kontemplationen zusammengestellt – eine überzeugend dichte beschreibung. beeindruckend ist vor allem, dass guggenheimer weder anklagend noch mit groll durch den ort geht, von dem sein grossvater sich nur schwer trennen konnte – und an den diesen zeitlebens auch nichts mehr erinnern durfte ausser einem mitgenommenen schlüsselbund. um so bewundernswerter ist es, wie einfühlsam und anteilnehmend guggenheimer die geschichte und probleme der 1945 in eine deutsche und eine polnische hälfte geteilte stadt görlitz/zgorzelec beschreibt. nicht die gebäude, sondern das leben in ihnen, die menschen wolle er schildern, ja dazu ermuntern, hinzuschauen, sie anzusprechen, wenn man sie erkennt, so liest man. und tatsächlich, guggenheimer nennt die namen derer, die er traf und befragte. dem leser wird deren alltag in 84 beschaulichen kapiteln von jeweils nur wenigen seiten immer plastischer und am ende gar so vertraut, als wäre er selber zigmal dort gewesen.
guggenheimer hat besonders das geographisch bedingte politische los dieser stadt und die dadurch über sie gekommenen fluktuationen angerührt. 1945 wurde die neisse zur grenze, und der stadtteil östlich des flusses gehörte fortan zu polen, görlitz ist seitdem «auseinandergebrochen». im zuge der wanderungen, die diese neuordnung europas verursacht hatte, mussten sowohl polen weiter nach westen umsiedeln als auch deutsche aus ihren bisherigen orten im osten zurückwandern. in der grenzstadt görlitz/zgorzelec kamen auf diese weise menschen zusammen, denen sie bis dahin fremd gewesen war du die sich auch untereinander nur fremd sein konnten. auch die stadtteile selber entwickelten sich danach immer unterschiedlicher, wiederum durch die aussenpolitischen entwürfe bedingt: jahrelang wurde die neisse von der ddr als friedensgrenze verklärt, während der polnischen soidarnosc-zeit aber hermetisch verschlossen. und auch heute, nach der zweiten einschneidenden europäischen neuordnung durch die osterweiterung der eu im mai 2004, wird es wieder an der grenzpolitik liegen, wie gut das geteilte städtchen seine verschiedenen hypotheken wird abtragen können. guggenheimer findet auch dafür schon «spuren» und berichtet von etlichen initiativen, mit denen die sprachlichen und kulturellen barrieren zukünftig einmal weggeräumt sein sollten – wirtschaftlich werde das verhältnis wohl ohnehin der not gehorchen, denn der wohnungs- und arbeitsmarkt brauche verbundene stadtteile: «die europastadt … soll wirklichkeit werden. eine doppelstadt mit zwei sprachen, in zwei ländern an beiden ufern des flusses gelegen. davon sprechen die deutschen politiker, doch kaum einer von ihnen kann sich in polnisch unterhalten. freie fahrt vom postplatz in görlitz zur warszawska in zgorzelec, mit der strassenbahn ins ausland: so soll es eines tages sein.»
guggenheimer hat mit diesem buch in einer sympathisch unprätentiösen weise völkerverständigung geschrieben.
schlesien heute, nr. 7/2005
israel, zürich und dann görlitz
der autor michael guggenheimer
von ines eifler
da schreibt jemand ein buch über görlitz, als kenne er es wie seine westentasche. beschreibt kapitel um kapitel historisch bedeutsame oder heute wichtige orte, wirft blicke auf die polnische seite der stadt und malt die vage vision einer gemeinsamen zukunft beider teile, von görlitz und zgorzelec östlich und westlich des grenzflusses. spürt der geschichte von görlitzer unternehmen nach, erzählt kleine und große begebenheiten, schildert die atmosphäre der stadt und ihrer feste. immer mit der sicht eines journalisten auf etwas, das sich wahrzunehmen lohnt. er hat menschen aufgesucht und über ihr leben befragt, interessante persönlichkeiten, einflussreich oder ganz ohne offiziellen rang, heimische und zugewanderte oder solche, die einfach als beispiele für einen großteil der bevölkerung stehen.
«zerteilen müsste man sich»
und fasziniert von görlitz ist der in zürich lebende autor michael guggenheimer noch immer, obwohl er so viel von der stadt gesehen und gehört hat, vielleicht weiß er sogar mehr über sie als manch anderer, der seit jahren hier lebt. «jedes mal, wenn ich in görlitz bin, muss ich zusehen, dass ich nichts verpasse, so viel ist hier los. zerteilen müsste man sich, unbedingt. und bei irgendeinem vortrag, einer lesung treffen sie mich immer.» auch jetzt hat guggenheimer es fast ein bisschen eilig. nimmt sich zeit für kaffee und plauderei, doch danach läuft er geschwinden fußes in die görlitzer stadtbibliothek, um dort mehr über das konzentrationslager im biesnitzer grund zu erfahren. «ich hab davon gehört, aber viel weiß ich darüber gerade nicht.»
guggenheimer kennt die stadt an der neiße zwar nicht aus der kindheit, sondern selbst erst seit wenigen jahren – doch er hat sich görlitz zugewendet, weil es zu seiner eigenen geschichte gehört. er wurde ein jahr nach kriegsende geboren, doch seine mutter stammt von hier, als jüdin floh sie 1933 mit ihren eltern über prag und triest nach palästina. michael guggenheimer ist in tel aviv aufgewachsen, da ging er zur schule, später in amsterdam, seine «matur» machte er in der schweizer stadt zug, bevor er zeitgeschichte des 19. und 20. jahrhunderts sowie sozialpsychologie studierte. in seinem buch «schicht um schicht. spuren einer zukunft» gibt er nicht nur ein bild vom gegenwärtigen görlitz, er erzählt auch von seinen wurzeln in der stadt, vom großvater, der auf der berliner straße eine zahnarztpraxis hatte und mit seiner familie im eckhaus postplatz/konsulstraße, direkt neben dem hotel monopol lebte – beides steht heute verwaist und leer.
hebräisch, hoch- oder schweizerdeutsch?
dass guggenheimer, immer mit rucksack unterwegs, nicht von hier ist, weiß man bald. den stift hält er anders, als man es gewohnt ist, mit größerer distanz zum papier. er zieht das heft zu sich herüber und macht als test schnell selbst ein paar notizen – auf hebräisch, in seiner muttersprache; schiebt die weiche miene von rechts nach links, bevor er unterbrochen wird. sein mobiles telefon klingelt, «entschuldigung», dann sagt er schnelle fremde worte, noch mal entschuldigt sich der schriftsteller, «das war meine schwester, sie ruft aus israel an». wieder geht ein halbes stündchen ins land, und als es das nächste mal läutet, spricht guggenheimer in einer halbwegs verständlicheren sprache voller «k»s, «ch»s und «-li»s, die aber immer noch ganz anders als sein hochdeutsch klingt, das er mit 16 jahren lernte und akzentfrei spricht. ins handy sagt er «halbi elfi bisch zruck, dasch guet» und dann erneut «entschuldigen sie, aber jetzt haben sie gehört, wie ich sonst spreche!» das war nun aber kein anruf aus der schweiz, sondern geradewegs aus dem barockhaus in der görlitzer neißstraße, wo der schweizer marius winzeler die kunsthistorische leitung des museums innehat. «ja, wenn wir uns hier treffen, freuen wir uns, miteinander schwyzerdütsch zu reden.»
«irgendwann konnte ich mich nicht mehr lesen»
denn in zürich spielt sich guggenheimers wahres leben ab, eine literaturwissenschaftlerin an seiner seite, vier erwachsene kinder aus erster ehe in der schweiz verstreut. dennoch ertappt er sich hin und wieder bei blicken in görlitz häuser mit der frage: «was mögen denn hier so die wohnungen kosten, zumindest für drei, vier monate im jahr?» doch so ganz und gar an die neiße ziehen kann er zumindest jetzt noch nicht; will er arbeiten wie bisher, liegt görlitz ein klein wenig zu weit ab vom rest der welt. er schreibt ja nicht nur bücher, davon können schließlich die wenigsten autoren leben, sondern auch artikel in der presse, er verfasst reden für verschiedene leute, fotografiert, leitet als freier dozent im bereich text und literatur «schreibwerkstätten» und gibt kurse wie «kritisch zeitung lesen», «medienkunde» oder «öffentlichkeitsarbeit».
doch das war nicht immer so. «irgendwann vor etlichen jahren hatte ich aufgehört zu schreiben. konnte meine eigenen texte nicht mehr ertragen, die in zeitweise acht verschiedenen zeitungen erschienen waren. in jedem meiner artikel las ich die immer gleichen manierismen und dieselben worte: ‚indes‘ oder ‚hin‘ in jedem zweiten satz, da wusste ich, etwas anderes muss her.» er gab den schreibenden journalismus für eine weile auf, kümmerte sich sieben jahre lang in der ostschweiz um die öffentlichkeitsarbeit beim «migros-kulturprozent». ganz in diesem element, leitete guggenheimer für 13 jahre die abteilung kommunikation der schweizer kulturstiftung pro helvetia in zürich, deren in drei sprachen erscheinende schweizer kulturzeitschrift «passagen» er leitete.
neues journalistisches schreiben
doch dann begann er frei von neuem. 2003 war genug zeit der schreibabstinenz vergangen, und auch wenn leute sagten, «bist du denn verrückt? das risiko!», machte er sich wieder als autor selbstständig. in seiner arbeitsweise lässt sich der journalismus nicht verleugnen, wie auch sein görlitz-buch zeigt. zwar schreibt guggenheimer auch ganz fiktive erzählungen, doch immer noch mehr ist er interessiert am «beobachtenden schreiben. ich lasse mich anregen von gesprächen, büchern, bildern und filmen, und immer bin ich mit notizbuch unterwegs, lasse nie etwas unbemerkt an mir vorübergehen. manchmal liegen diese aufzeichnungen einfach nur da, und erst viele monate später komme ich darauf zurück, und dann entsteht ein text. und manchmal weiß ich auch schon, nicht jetzt, aber irgendwann wird mich das beeinflussen.
ein solches «langzeitprojekt» sind guggenheimers gespräche mit übersetzerinnen. «wahrscheinlich gibt es einfach mehr gute frauen in dieser branche», antwortet guggenheimer auf die frage, warum er keine männer interviewt habe, «es hat sich einfach so ergeben oder ist mehr zufall als absicht.» immer wieder trifft er frauen, die bücher seiner bevorzugten autoren beispielsweise aus dem holländischen oder hebräischen ins deutsche übertragen haben, befragt sie, und irgendwann wird er vielleicht über diejenigen schreiben, die seine liebste lektüre genauso gut kennen wie er.
für sein neues buch, ein auftragswerk, in dem es um einen berühmten modedesigner geht, hat er sich auf ein rechercheterrain begeben, mit dem ihn zuvor rein gar nichts verband. «vor drei monaten wusste ich noch nicht einmal, was größe 36 oder 42 heißt.» neuland ist für guggenheimer die welt der mode, der show, des laufstegs, die weiche farbenwelt der stoffhändler und teuren läden, in deren schaufenstern kostbare kleider liegen, die sich nur leute leisten, die etwa in zürich, mailand oder rom leben, aber extra, um der mode willen, in die pariser city reisen. erscheinen soll das buch 2006.
der autor und die kulturhauptstadt
eigentlich dachte guggenheimer, nach erscheinen von «schicht um schicht» sei görlitz «ein abgeschlossenes kapitel» für ihn. aber weit gefehlt. im moment ist er zwar – aus modegründen – besonders viel in frankreich unterwegs, doch görlitz lässt ihn nicht in ruh: «ständig bekomme ich anfragen, die irgendetwas mit görlitz zu tun haben.»
seit einer geraumen weile arbeitet der autor mit dem kulturhauptstadtbüro zusammen, seit der herausgabe seines buches wird guggenheimer für viele dinge, die görlitz und die literatur betreffen, herangezogen. er war es, der zu beginn des jahres die jury zur auswahl der endkandidaten unter zehn kulturhauptstadt-bewerbern 2010 durch die stadt begleitete und vielleicht ein bisschen dazu beitragen konnte, dass diese sich später für görlitz und essen als favoriten der letzten runde entschied.
zum zweiten kulturhauptstadt-kunstfest im brückenpark am 9. juli – nach nummer eins am 1. mai – werden die ergebnisse einer deutsch-polnischen schreibwerkstatt guggenheimers präsentiert, texte, die görlitzer und zgorzelecer in auseinandersetzung mit der architektur ihrer stadt verfasst haben, mit görlitzer orten und gebäuden, mit der realität oder ihren visionen davon. zwischen zwei arbeitsreichen wochenenden lagen individuelle treffen mit den laienliteraten, denn guggenheimer mag keine schreibanleitung in gruppen, lieber wollte er mit jedem, der lust hat, einzeln über dessen text sprechen. für den abschluss stellt er sich vor, dass polen in räumen auf deutscher seite lesen, und andersherum die deutschen schreiber ihre werke in polen vortragen, vor allem aber sollen sie einander in raum und zeit begegnen, sodass ein internationaler dialog entsteht. «viele können schreiben, wissen es nur nicht», meint guggenheimer, und ob er damit recht hat, wird man in wenigen tagen an görlitzer orten hören können.
sächsische zeitung, kultur, 09.07.2005
new york, tel aviv – und görlitz
von valeria heintges
michael guggenheimer reiste 1993 an die neiße. seither lässt ihn die stadt görlitz nicht los.
es war eine reise ins unbekannte. michael guggenheimer wusste wenig von görlitz, kannte die stadt nur aus den erzählungen seiner mutter, die hier lebte, bis sie zwölf jahre alt war. der sohn hatte der mutter die gemeinsame reise als suche nach ihren ursprüngen geschenkt. die mutter erinnerte sich nur wenig an ihre geburtsstadt: 1933 packte sie ihren kinderrucksack für einen wochenendausflug ins riesengebirge – dass der ausflug eine flucht war, verstand sie erst monate später. über triest ging es nach haifa und von dort nach tel aviv. erst 60 jahre später, als 72-jährige sollte sie nach görlitz zurückkehren.
die mutter hat görlitz nach anderthalb stunden wieder verlassen, aber der sohn ist zurückgekehrt. erst einmal, dann immer wieder. sieben monate hat er insgesamt seitdem an der neiße verbracht. mal dauert der aufenthalt nur einige tage, mal einige wochen. «görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft» heißt das buch, das so entstanden ist. darin beschreibt der autor, journalist und fotograf die geschichte seiner familie. seine eigene geschichte. und die von görlitz. «die stadt ist wie eine geliebte, die ich regelmäßig aufsuche», schreibt er. er untersucht die stadt eben «schicht um schicht».
vergangenheit im rücken
«mein görlitz hat die vergangenheit im rücken und schaut suchend nach vorn», schreibt der schweizer, der in tel aviv geboren wurde. und er erzählt von dieser suche, den hoffnungszeichen, den rückschlägen. ihn interessieren die menschen und ihre schicksale. die «altbürger», die ihrer stadt die treue halten. die «neubürger», die ihrem charme erliegen und an die neiße ziehen. 81 namen kommen vor, vom bürgermeister bis zur polnischen pilzverkäuferin. die görlitzer akzeptieren diese unvoreingenommene sicht des ausländers. «er hat einen ganz eigenständigen blick auf diese stadt», findet theaterintendant michael wieler. «den blick eines literarisch gebildeten, kultivierten menschen. und er wirkt auf mich immer beruhigend, weil er sich die zeit nimmt nachzudenken.» guggenheimer sieht die leerstellen, die die vielen wegzügler reißen. er sieht die grenze, die chance, die sie bietet, und die angst, die sie vielen macht. hunderte kilometer ist er gelaufen und mit dem fahrrad gefahren. die geburtsstadt der mutter hält jetzt den sohn gefangen.
ein offenes lachen, ein fester händedruck zur begrüßung. strahlend blaue augen unter buschigen augenbrauen. wenn guggenheimer nachdenkt, bilden die falten auf der stirn ein kleines hufeisen. und manchmal hüpft eine augenbraue spöttisch-ironisch in die höhe. nur selten, denn spott ist guggenheimers sache nicht. «er ist ein unaufdringlicher mensch», sagt sein verleger frank stübner vom lusatia-verlag in bautzen, «mit großer achtung vor den menschen.»
michael guggenheimer hat fürs gespräch ein café vorgeschlagen, das sich mit seinem verwunschenen garten und seinem tonnengewölbe in einer seitengasse versteckt. weil er den schweizer kennt, dem das haus gehört. weil es schön ist – der 58-jährige liebt schöne orte. «es ist ja nicht nur görlitz, das mich umtreibt», wehrt er ab. auch new york und tel aviv lassen ihn nicht los. wer außer ihm würde dieses trio zusammenstellen?
«in tel aviv reizt mich die sprache», sagt guggenheimer. jedes jahr, über weihnachten und neujahr ist er drei wochen in seiner geburtsstadt. in new york, der «mutter aller städte», treibt ihn die lebendigkeit um: «die anregendste stadt, die ich kenne.» «der mann ist kosmopolit», sagt peter baumgardt, leiter des kulturhauptstadt-büros. «ein ganz feiner, sensibler mensch. und er strahlt eine große vertrautheit aus. es ist immer so, als würde man ihn schon jahrelang kennen.» guggenheimer wirkt, als ruhe er in sich und sei dennoch ständig auf der suche nach positiver, anregender reibung. derzeit brütet er über einem buch über modedesign in paris und einem über architektur von medienhäusern. er arbeitet über buchdesign und an einem erzählband über görlitz. geschichten, die nicht passiert sind. die aber hätten passieren können.
«jeder braucht eine suche als lebensvorwand.» den satz hat guggenheimer irgendwo gehört. auch er kommt im görlitz-buch vor. als er damals, vor zwölf jahren, auf dem obermarkt stand, «kam ich aus dem staunen nicht heraus, dass meine mutter aus einer so schönen stadt stammt». er kehrte zurück, wühlte in archiven nach der familiengeschichte. fand das haus, in dem der großvater als zahnarzt gelebt hatte. fand heraus, dass der den sozialdemokraten nahe stand und im vorstand der synagoge war. die warschawskis waren die erste jüdische familie, die aus görlitz floh. die eltern des vaters hingegen blieben in augsburg. «sie dachten, ihnen passiert nichts.» sie haben nicht überlebt.
«mich hat dieser wache großvater interessiert und dadurch die stadt.» in tel aviv duldete der opa kein deutsches wort, nicht einmal einen deutschen plattenspieler wollte er in seiner wohnung haben. auch auf den spuren jüdischer geschichte wandelt guggenheimer durch görlitz. als die jury görlitz als deutschen kandidaten für die europäische kulturhauptstadt 2010 bewerten sollte, hat michael guggenheimer sie durch die synagoge geführt. als die frage kam: «wie viele neonazis sitzen im stadtparlament?», hat er sie beantwortet. er verwies auf die etablierten parteien, erzählte von der aktiven bürgerbewegung gegen rechts. «das war ein ganz heikler moment», erinnert sich der schweizer. «denn da sitzt ja einer im stadtrat mit rechtsradikalem einschlag – und in der jury waren mit adolf muschg und györgy konrad zwei ausländer.»
das schicksal der synagoge wird guggenheimer auch am heutigen sonnabend auf dem zweiten brückenpark-fest umtreiben, das sich der literatur widmet. er will heitere texte lesen und einen nutzungsvorschlag unterbreiten, «den nur ein jude machen kann. bei deutschen löst die synagoge immer betroffenheit aus. auch bei denen, die erst nach dem krieg geboren wurden oder noch kinder waren. das sind schuldgefühle, die die leute nicht haben müssten. ich jedenfalls bin hier noch nie jemandem begegnet, von dem ich dachte: ,ich gebe ihm lieber nicht die hand, wer weiß, was er im zweiten weltkrieg so gemacht hat.’»
michael guggenheimer, der weltenbürger, lernte hebräisch, holländisch und englisch. dann erst deutsch, die sprache, in der er seine bücher schreibt. manche texte sind auch in französisch. wo gehören sie heute hin, herr guggenheimer? er zögert. «wahrscheinlich …», er zögert wieder. «ja, ich weiß es auch nicht.» er lächelt und sagt dann: «zu mir. und zu den sprachen. sie sind meine heimat.»
görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft. lusatia verlag, 14,90 euro.
musikalisch-literarischer rundgang durch die synagoge görlitz mit guggenheimer und yaron windmüller (bariton), 9. 7., 19.30 uhr
www.buchkatalog.de, seit juni 2005
görlitz ist die östlichste stadt deutschlands. gleichzeitig ist sie die westlichste stadt polens. görlitz ist die größte stadt europas, die in zwei ländern liegt. die an der lausitzer neiße gelegene stadt wurde nach dem zweiten weltkrieg geteilt. der polnisch gewordene teil der stadt heißt zgorzelec. lange zeit haben beide stadthälften nur spärliche kontakte miteinander unterhalten. gemeinsam bewerben sie sich heute um die nominierung als europäische kulturhauptstadt 2010. michael guggenheimer geht in seinem buch der situation in der zweigeteilten stadt nach. in einem ersten erzählerischen teil schildert er die geschichte einer familie, die 1933 eine der damals wohlhabendsten städte deutschlands fluchtartig hat verlassen müssen. in einem zweiten teil zeigt er die probleme auf, mit denen die stadt heute konfrontiert ist: die zweifache randlage, die rund 9000 leeren wohnungen, die hohe arbeitslosenrate… gleichzeitig zeigt er auf, wo die chancen dieser stadt liegen könnten, deren bausubstanz den weltkrieg und die jahre der ddr-zeit unversehrt überstanden hat. in zahlreichen porträts geht michael guggenheimer menschen, bauten, plätzen und betrieben der deutsch-polnischen stadt nach. trotz ihrer randlage und trotz der hohen arbeitslosenrate glaubt der autor an die zukunft der brückenstadt an der sprachgrenze.
education permanente, 03. 2005
«görlitz – schicht um schicht. spuren einer zukunft»
der publizist michael guggenheimer aus zürich, ep-leserinnen und -lesern bekannt als autor zahlreicher artikel in dieser zeitschrift, hat ein ungewöhnliches buch geschrieben, das auf grosse aufmerksamkeit stösst und bereits ins polnische übersetzt worden ist. es heisst «görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft», erschienen im lusatia verlag, bautzen in zweiter auflage bereits.
görlitz – zgorzelec, an der neisse gelegen. nach dem 2. weltkrieg wurde die an der lausitzer neisse gelegene stadt görlitz zweigeteilt. der auf der ostseite des flusses liegende stadtteil kam zu polen und erhielt den neuen namen zgorzelec. die frühere deutsche bevölkerung der 100 000 einwohner zählenden stadt hat die ostseite verlassen müssen, ukrainer und griechen siedelten sich hier an. görlitz lag während der ddr-zeit am rand. mit dem beitritt polens zur eu könnte sich die situation der von gotik, renaissance und gründerzeit geprägten stadt ändern. wie lebt es sich in einer zweigeteilten stadt, wo liegen die chancen und wo die probleme der stadt? der autor lässt menschen zu wort kommen, die in görlitz leben oder lebten, die neu nach görlitz gezogen sind mit projekten und ideen oder die westwärts zogen. der autor zeichnet ein kenntnisreiches porträt dieser stadt, die sich übrigens auch als kulturhauptstadt 2010 beworben hat. er setzt erzählerische neben eher sachlich-journalistische texte, was den reiz dieses werkes ausmacht.
eidgenössisches departement für ausswärtige angelegenheiten eda
das schweizer aussenministerium (eda) hat 200 exemplare des buchs «görlitz. schicht um schicht – spuren einer zukunft» erworben. das buch wurde und wird bibliotheken in den neuen bundesländern geschenkt. in einem interview mit der dem dresdner stadtmagazin nonstop (auflage 250’000) vom herbst 2004 verweist der schweizer generalkonsul in dresden, hans dürig, auf die kulturellen aktivitäten seiner vertretung und insbesondere auf eine lesung mit der schweizer autorin gabriele alioth sowie auf die aktion in zusammenhang mit dem buch «görlitz. schicht um schicht».
timeleap, oct. 2005, bruxelles
from the middle of nowhere to the heart of europe
«trail of the future ist he subtitle of görlitz: layer by layer, the newst book by michael guggenheimer. the mother of this swiss author left görlitz in 1933 because her jewish family saw no prospects in germany. in 1993 her son financed a trip to görlitz for her – and henceforth started on the search for he people’s identity and life in eastern and western europe. swiss author michael guggenheimer loves görlitz. his most recent book, layer by layer uncovers the trail of the future.»
«no one has yet told the history of the görlitz that i know: my mother’s escape as a child, the polish women selling mushrooms in the marketplace and the ones waiting on heyne street with their empty shopping bags, the public officials and architects eating lunch in the nursing home, the florist who got her flowers from the deconstruction zone, the married couple who forged friendeships with borders in their house, the story of the american fabric merchant whose path somehow led him to görlitz, the special education teacher who worked as a carpenter, remote poland right outside the front door and the fear of our neighbours to the east. that is ‚my‘ görlitz. they’re my encounters, my extentded promenades. like conny bagi’s wink when i would walk by her photography shop, it’s the conversation with mr.lehmann the goldsmith from brüder street, it’s the nut torte in the café in the lower marketplace. that’s what no one else writes about. my görlitz is not an art monument, even though the city itself is. it’s almost a museum, but with inhabitants that summon the courage to start a wine shop, an inn, a small movie theater, a local bookstore, a lighting manufacturer or an organic food store in the almost empty old town. i’m interested in seeing how, separated by only a narrow river, two europes have coexisted, the east and the west.»
deutsche presse agentur (dpa) vom 9. januar 2006
verliebt in görlitz:
der schweizer publizist michael guggenheimer
von marc strehler
görlitz (dpa) – es begann mit einem kurzen besuch 1993 und wurde zu einer liebe fürs leben: der schweizer fotograf und publizist michael guggenheimer hat mit der stadt görlitz eine «geliebte» gefunden, wie er selbst sagt. beim ersten mal kam er mit seiner mutter, die 1933 von hier vor den nazis floh, und seitdem immer wieder. der neissestadt an der sächsisch-polnischen grenze hat er sogar ein buch gewidmet.
guggenheimer wusste nichts über görlitz, als er die heimatstadt seiner vorfahren das erste mal besuchte. «man sprach bei uns nicht darüber», erinnert er sich an die gewohnheiten in seiner familie. seine jüdischen grosseltern waren 1933 angesichts des erstarkenden nationalsozialismus aus der stadt geflohen. die mutter war damals ein 13-jähriges mädchen und erst 60 jahre später bereit zu einer rückkehr in die stätte ihrer kindheit. michael guggenheimer begleitete seine eltern 1993. inzwischen reiste er immer wieder an und unterstützt nach kräften auch die kulturhauptstadt-bewerbung.
«schicht um schicht – spuren einer zukunft» ist sein 2004 erschienenes buch untertitelt, in dem sich guggenheimer görlitz widmet. der schweizer nähert sich darin den menschen, beschreibt interessante projekte und ideen. selbst alteingesessene lesen mit staunen darin und entdecken manche geschichte, die ihnen noch nicht bekannt war. «die stadt ist wie eine geliebte, die ich regelmässig aufsuche», schreibt guggenheimer im buch. görlitz zieht in immer wieder an. «jedes mal denke ich, dass ist der letzte besuch für längere zeit», erzählt guggenheimer. ein paar monate später ist er wieder da.
guggenheimer, jahrgang 1946, lebt in zürich und hat schon einiges gesehen von der welt. geboren wurde er in tel aviv, wo seine grosseltern nach ihrer flucht letztlich landeten. in amsterdam besuchte er das gymnasium, weil seine eltern die sehnsucht nach der deutschen sprache wieder nach europa gezogen hatte. seinen abschluss machte er schliesslich in der schweiz. «heimat ist dort, wo einen die ladenbesitzer mit namen begrüssen. dort sind wir zu hause», sagt der autor. inzwischen passiert ihm das immer wieder auch in görlitz.
seine mutter hat inzwischen ihren frieden mit der stadt gemacht. dabei hatte sie es beim ersten besuch nur wenige stunden in der stadt ausgehalten. als ihr mann starb, wollte sie der stadtbücherei sogar seine privatbibliothek schenken. als ihr sohn in görlitz aus seinem buch las, sass die mutter unter den zuhörern. zwei monate görlitz im sommer, zwei monate tel aviv im winter und den rest des jahres in zürich – so ein leben könnte sich michael guggenheimer schon vorstellen, wenn dafür das geld reichen würde.
einen umzug nach görlitz scheut er jedoch, weil er glaubt, hier keine arbeit zu finden. guggenheimer schreibt zeitungsartikel und bücher, gibt schreibkurse und moderiert veranstaltungen. seine begegnungen und beobachtungen hat er auch in unzähligen fotos festgehalten. «görlitz hat wunderbare strassenzüge und plätze», schwärmt der weltenbürger. die stadt sei eine «braut, die man noch wachküssen muss».
klaus hübner, münchen, in schweizer monatshefte, märz 2008
ein schweizer in görlitz
der in der schweiz nicht nur wegen seiner langjährigen tätigkeit für «pro helvetia» bekannte schriftsteller und fotograf michael guggenheimer ist im sommer 2007 für seine verdienste um die an der lausitzer neisse gelegene doppelstadt görlitz/zgorzelec mit deren europamedaille ausgezeichnet worden. seine jüdischen vorfahren hatten die nicht nur wunderschöne und kulturhistorisch bedeutende, sondern damals auch noch reiche stadt 1933 fluchtartig verlassen müssen – ein die weitere familiengeschichte entscheidend prägendes ereignis, das guggenheimer nicht mehr losgelassen hat. und so bekam das westliche schlesien ausgerechnet einen schweizer zum chronisten!
seit dem jahr 2001 beschäftigt sich der autor intensiv mit der westpolnischen stadt, die gleichzeitig die östlichste deutschlands ist. in einem 2005 in überarbeiteter auflage neu erschienenen literarisch-feuilletonistischen streifzug «görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft» zeichnet guggenheimer ein eindrucksvolles panorama dieses architektonischen kleinods, das in den letzten jahren von zahlreichen touristen neu entdeckt worden ist. es geht in seinem buch nicht nur m die meist recht glanzvolle geschichte der stadt und das, was davon noch übrig ist, sondern auch um ihre gewaltigen probleme im 20. jahrhundert, die sich erst seit den letzten jahren schritt für schritt zu mildern scheinen. der zu zeiten des verfalls des real existierenden sozialismus eklatante verfall der bausubstanz scheint gestoppt, die der definitiven abwicklung vieler industriebetriebe nach 1990 gefolgte hohe arbeitslosenquote stagniert zumindest. und nach dem massiven bevölkerungsschwund der neunziger jahre sind nun wieder zuzüge zu verzeichnen. guggenheimer erläutert das alles, vor allem aber porträtiert er, literarisch gekonnt und mit dem historisch geschulten blick des fremden, einzelne menschen und charakteristische örtlichkeiten. das macht sein sympathisches görlitzbuch lesenswert.
michael guggenheimer: «görlitz. schicht um schicht. spuren einer zukunft». lusatia verlag, zweite auflage 2005.